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1940 - 1944 oDER NEOPLASTIZISMUS

 

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Victory Boogie Woogie, 1942-44

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Die kompositorischen Schemata, die Mondrian zwischen 1932 und 1938 ca. verwendet hat, die in Neoplastizismus Teil 2 unter den N. 1 Chart - N. 2 Chart - N. 3 Chart - N. 4 Chart besprochen wurden und hier durch 1, 2 und 3 dargestellt sind, verschmelzen schließlich in neue Werke (4, 5, 6) zwischen 1939 und 1942. Diese Werke stellen die letzte Phase des Neoplastizismus dar, die Vorstufe zu den letzten beiden Leinwänden Broadway Boogie Woogie (7) und Victory Boogie Wooge (8), die eine wunderbare Synthese von Mondrians Gesamtwerk darstellen.

Wir werden nun einige dieser Werke dieser letzten Phase untersuchen.

In diesem 1977 resauriertem Werk bevölkert sich die Komposition wieder mit Geraden; wie in 2 (siehe hier oben). Joosten zufolge könnte es sich hier um die Wiederaufnahme eines 1938 begonnenen Bildes handeln.

Zusätzlich zu den Pinseln und Ölfarben findet Mondrian in New York ein neues Produktionsmittel, um seine Werke zu realisieren: Durch die Anwendung farbiger Papierstreifen kann der Künstler die Komposition mit größerer Flexibilität ausdenken und die Position der Geraden gegenseitig austauschen; einmal eine befriedigende Konfiguration erreicht, kann er sie in Ölfarben endgültig fixieren. Während der konzeptionellen Phase dieser Komposition hat Mondrian stets mit den Farbstreifen gearbeitet und ist niemals zur endgültigen Auftragung der Farbe übergangen. Aus dem, was wir heute sehen können, benützt der Maler in diesem Werk gleichzeitig gelbe, rote und blaue Geraden, begleitet von zwei schwarzen und – einmalig - fünf weißen Geraden, welch letztere deswegen so erscheinen, weil die Leinwand, wenn ich mich richtig erinnere, nicht präpariert und daher elfenbeinfarben war.

In der Betrachtung und Kombinierung der verschiedenfarbigen Geraden zeigen sich Proportionen, die sich in ihrem Aussehen ständig ändern.

 

4 - New York City 3, (unfinished), 1941, Pencil, Charcoal, Oil on Canvas, cm 110,5 x 116,8

Das verschiedene Gewicht der Farben, in denen sich die Geraden ausdrücken, hebt bestimmte Proportionen in Bezug zu anderen hervor; sicherlich erscheinen die durch die weißen Geraden markierten Bereiche weniger deutlich als die von den roten Geraden markierten. Oben links lässt sich eine gelbe Fläche beobachten und am rechten Bildrand scheint eine unbestimmte blaue Fläche durch.

Der einzige Bereich, der auf den ersten Blick etwas Beständigeres auszudrücken scheint, ist die gelbe Fläche. Diese erstreckt sich horizontal, wird jedoch auf der rechten Seite von einer roten vertikalen Gerade zu einer quadratischen Proportion zurückgeführt, die von einer anderen roten Gerade auf der linken Seite und von einer blauen Gerade unten (Diagramm 4a) gebildet wird. In der Fläche, die sich in einem dynamischen Gleichgewicht zwischen horizontaler Ausdehnung des Gelb und Konzentrationskraft des Rot befindet, erreichen die gegensätzlichen Richtungen und die drei Primärfarben für einen Augenblick die Äquivalenz in einem gelben, roten und blauen Quadrat.

 

Diagramm 4a

Diagramm 4b

Diagramm 4c

Auf der rechten Seite lässt sich eine andere quadratische Proportion (b) erkennen, die von einer gelben Gerade oben, einer blauen Gerade unten (die selben horizontalen Geraden, die das Quadrat des Diagramms 4a bilden) und zwei neuen roten, vertikalen Geraden gebildet wird. Es handelt sich also um eine andere gelbe, rote und blaue Äquivalenz, nur dass im Vergleich zu Diagramm 4a das innere Feld des Quadrats nun nicht mehr gelb ist; vielmehr wird es von einer weißen, vertikalen Gerade durchzogen. Letztere setzt sich mit einer weißen Gerade auf der linken Seite in Beziehung und bildet eine dritte quadratische Proportion (Diagramm 4c).

Wie oben schon gesagt, kommt das Quadrat (Diagramm 4b) kraft des visuellen Gewichts der Farbe deutlicher heraus als das Quadrat (Diagramm 4c).
Die stille weiße Gerade, eine subtile Störung des Gleichgewichts des Quadrats (Diagramm 4b), verstärkt sich (sie wird rot) innerhalb von Diagramm 4c.
Die zwei Quadrate (Diagramm 4b) und Diagramm 4c in einer Sequenz sehen: Die rote Gerade, die das Quadrat Diagramm 4c teilt, scheint uns sagen zu wollen, dass sich die Äquivalenz der Gegensätze - einheitliche Synthese von Horizontale und Vertikale, Gelb, Rot und Blau - in Auflösung befindet (Diagramm 4d).

Betrachten wir Diagramme 4a, 4b, 4c in einer Sequenz, sehen wir eine gelbe, vorwiegend horizontale Fläche zu einem gelben, roten und blauen Quadrat (4a) werden, eine einheitliche Synthese von allen Elementen der Komposition (Horizontal, Vertikal, Gelb, Rot und Blau) (4a), die sich dann allmählich auflöst (4b, 4c, 4d).
Einmal mehr stellen wir fest, dass sich verschiedene Teile einer neoplastischen Komposition als eine einzige, in ihrem Werden dargestellte Entität enthüllen.

Die vorgeschlagenen Lesarten sind nicht eindeutig. In meiner Erläuterung führe ich nur einige der möglichen dynamischen Sequenzen vor. Natürlich schließt die Wahrnehmung eines Bildes eine Vielfalt von parallelen und manchmal gleichzeitigen Ansätzen ein. Der Gehalt eines neoplastischen Bildes geht über die einschränkenden und partiellen Beschreibungen hinaus, die uns die verbale Sprache zur Verfügung stellen kann.
Um die ganze Substanz einer Komposition zu erfassen, muss man sich mehrmals mit ihr beschäftigen. Das Auge geht wieder und wieder denselben Pfaden nach, die jedes Mal neue Beziehungen evozieren, die auf diese Weise eine reiche und gegliederte "Landschaft" ausdrücken.

 

Diagramm 4d

Diagramm 4e

Diagramm 4f

Im unteren Bereich der Komposition ist eine quadratische Proportion zu erkennen, die aus drei roten Geraden und einer schwarzen Gerade gebildet ist (Diagramm 4e / 1). Das Feld innerhalb des großen quadratischen Bereichs wird von verschiedenfarbigen Geraden durchzogen, die eine Vielfalt an mehr oder wenigen deutlichen Rechtecken erzeugen.

An den Geraden entlangwandernd, stoßen wir dann auf eine neue Proportion in einer Balance zwischen einer leicht vertikalen Prävalenz (Diagramm 4e / 2) und einem horizontalen Rechteck (Diagramm 4f / 3). Kaum dass sich eine ungewisse quadratische Proportion ausdrücken kann, wird sie schon durch die schnelle Kontinuität der Geraden (h) nach rechts gezogen.

Der dynamische Verlauf der Geraden setzt die Balancen, die sich für einen Moment mit der Äquivalenz der gegensätzlichen Richtungen und verschiedenen Farben manifestieren, unter Druck. Während sich das Auge bei einer einzigen Proportion aufhält, setzt sich der Raum wieder in Bewegung, wobei er sich in neuen Expansionen und Konzentrationen abwechselt. Wenn von weißen Geraden gebildet, sind die Flächen kaum sichtbar. Die größere oder kleinere Beständigkeit der quadratischen Proportionen hängt nun auch vom Farbton der Geraden ab, aus denen sie sich bilden.

Die blaue Fläche rechts ist so ausgesprochen vertikal, dass sie fast wie ein Segment der Geraden erscheint. Diese Fläche scheint die Abwesenheit der blauen Geraden in diesem Bereich der Komposition kompensieren und zugleich dem Ganzen ein gewisses Gewicht verleihen zu wollen, indem es die gelbe horizontale Fläche ausbalanciert. Im Vergleich zum Quadrat (Diagramm 4e / 1) befindet sich die blaue Fläche in derselben Position, in der sich die kleinen Farbakzente der Bilder nach Aufbau N. III befinden. Auch die Position der gelben Fläche bestätigt eine Spur des Aufbaus N. III.

 

 

Wie in 2 (siehe weite oben) und in 4 vervielfacht sich auch hier der Raum; vierzehn horizontale Geraden und zehn vertikale Geraden erzeugen zusammen mit veränderlichen Beziehungen einen Komplex.

Am oberen und unteren Ende des Quadrats sind zwei schwarze Geraden zu sehen. Vier vertikale Geraden und drei horizontale Geraden von schwarzer Farbe sind von Mondrian mit Farbstreifen bedeckt worden.

Wie Joosten sagt, könnte man vermuten, dass das Bild eine Wiederaufnahme einer Komposition der vorangegangenen Jahre ist.

Auch hier stehen wir einem Raum gegenüber, der sich in seinem Aussehen ständig ändert; eine Vielfalt von Situationen, die aus verschiedenen Kombinationen derselben Elementen hervorgehen.

 

5 - New York City 1, (unfinished), 1941, Oil and Painted Paper Strips on Canvas, cm. 115 x 119

   

Diagramm 5a

Diagramm 5b

Diagramm 5c

Betrachten wir einerseits die Varietät an Maßen und Proportionen und suchen andrerseits Bedingungen des konstanteren Raumes (Diagramme 5a, 5b, 5c), der dann immer wieder von einer plötzlichen horizontalen oder vertikalen Ausdehnung, der Präsenz der einen oder anderen Farbe aufs Spiel gesetzt wird.

Wie in 4 erscheinen die quadratischen Proportionen von mehr als vier Geraden gebildet. Auf diese Weise dehnen sich die Quadrate aus und ziehen sich zusammen, wodurch sie auf einen Verlust und eine nachfolgende Wiederherstellung der Äquivalenz der Gegensätze anspielen. Die Quadrate sind nun weniger bestimmt; noch instabiler als jene, die aus einzelnen Geraden gebildet sind.

In dieser Komposition ist keine einzige Farbfläche mehr zu erkennen. Eine größere Dichte von Elementen scheint im unteren Teil der Komposition zu konzentrieren, wo die horizontalen Gerade so nahe nebeneinander stehen, dass sie fast eine einzige Fläche hervorrufen, die simultan von verschiedenen Farben gebildet wird. Das nahe der Unterseite des Bildes zu beobachtende größere Gewicht scheint die ganze Komposition verankern zu wollen, um den Verlauf der Geraden, die, vor allem im oberen mittleren Teil, den dynamischen Aspekt der Komposition betonen, auszubalancieren.

Um 1940-41 verwandeln sich die einheitlich schwarzen Geraden also in durch und durch farbige. Die Blüte der farbigen Geraden markiert einen weiteren Schritt im mit Composition B with Double Line, Yellow and Grey (1932) begonnenen Prozess der Öffnung des Einen zur Vielfalt.
Einige Forscher haben die Öffnung der Geraden zur Farbe mit der Disponibilität der Farbstreifen, von denen oben die Rede war, in Zusammenhang gebracht. Dass jene Streifen plötzlich eine Veränderung in dem herbeigeführt haben könnten, was, wie die bisherigen Analysen deutlich gemacht haben dürften, in der Entwicklung des Werkes des holländischen Meisters schon seit 1915 angelegt war, d.h. seit jener einheitlichen Synthese in Gestalt des Quadrats (Pier and Ocean 5 - 1915), die sich zur Farbe hin öffnet, glaube ich nicht.

 

 

Die Öffnung zur Farbe nimmt in diesem Bild, in dem die Geraden gelb, rot, blau und schwarz sind, entschiedene Gestalt an. Es scheint, dass die Komposition in einem ersten Stadium nur gelbe Geraden und eine rote Fläche aufgewiesen hatte; danach hatte wohl der Künstler das Bild überarbeitet, die Fläche weggenommen und die roten und blauen Geraden hinzugefügt.

In diesem Werk lassen sich gut dreiundzwanzig Geraden beobachten, von denen fünfzehn gelb, vier rot und vier blau sind. Das visuelle Gewicht der drei Farben scheint ihre Verteilung zu beeinflussen. Das Blau und das Rot sind sichtlich gewichtiger und daher in der Minderzahl zum Gelb, das von sichtlich leichterem Gewicht ist (näher an Weiß).
Es bedarf einer größeren Anzahl von Gelb, um die größere Sichtbarkeit des Rot und Blau zu kompensieren. Über die quantitative Verteilung sucht der Künstler die qualitative Wertigkeit der Farben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ein Beispiel für die dynamische und asymmetrische Konzeption des Gleichgewichts.

Gelbe, rote und blaue Geraden grenzen die weiße Fläche des Bildes ein, die sich in einem instabilen Gleichgewicht zwischen den beiden gegensätzlichen Richtungen hält; einmal überwiegt die Horizontale und einmal die Vertikale, hier eine bestimmte Farbkombination, dort eine andere. Manchmal erreichen Horizontale und Vertikale die Äquivalenz und nehmen relativ stabilere Proportionen an.

 

 

6 - New York City, 1942, Oil on Canvas, cm. 114,2 x 119,3

 

Diagramm 6a zeigt sieben durchnummerierte quadratische Proportionen, von denen einige miteinander verschachtelt sind. Jedes Quadrat unterscheidet sich vom andern auch durch die verschiedene Position, die die Geraden einer selben Farbe von Mal zu Mal innerhalb jeden Quadrates einnehmen.

Auf der Ebene der Form sind sich 1 und 2 ähnlich, unterscheiden sich jedoch kraft der gegenseitigen Versetzung der Farben; das Gleiche gilt für 3 und 4.
Die quadratischen Proportionen 1, 2 und 7 scheinen von sechs oder acht verschiedenfarbigen Geraden gebildet zu sein; die Festlegung des Quadrats erscheint weniger klar und deutlich.

Mehr als wo anders scheint Mondrian im Quadrat 2 die drei Farben verschmolzen haben zu wollen, um eine Synthese des Gelb, Rot und Blau auszudrücken. Nach rechts hin verliert sich die Äquivalenz, und das Quadrat avanciert zu einem Rechteck. Die einheitliche Synthese, die sich mit den drei Primärfarben gezeigt hatte, verliert sich in dem Moment aus dem Auge, in dem wir nur eine Farbe betrachten.

Andere Quadrate werden nur durch zwei Farben (3 und 4) gebildet. In 6 erreicht ein horizontales, gänzlich gelbes Rechteck die Äquivalenz mit dem Rot; das Gleiche passiert in 5 mit dem Blau.

Diagramm 6a

Ein von vier gelben Geraden gebildetes Feld, hat die Proportionen eines horizontalen Rechtecks (1). Das Rechteck erreicht eine Äquivalenz der Horizontalen und Vertikalen, wenn in Bezug zur blauen Gerade oben gesehen oder ohne diese, aber dann in Bezug zur roten Gerade unten. Betrachten wir dagegen das gelbe Rechteck in Bezug zur blauen oder roten Gerade, werden die anfänglichen (leicht horizontalen) Proportionen leicht vertikal. Wir sehen also ein dynamisches Quadrat, das zwischen einer leicht horizontalen Prävalenz (gänzlich gelb) und einer leicht vertikalen Prädominanz (gelb, rot, blau) schwankt.

 

6 - New York City

Diagramm 6b

Das Diagramm 6b zeigt einen Teil einer vertikalen roten Linie und einen Teil einer horizontalen blauen Linie, die dazu tendieren, ein gelbes Rechteck zu einer quadratischen Form aus den drei Grundfarben zu konzentrieren (8). Jede Farbe braucht die andere, um das Gleichgewicht und die Einheit zu erreichen, die in der quadratischen Proportion zu sehen ist.

Mit 9 blicken wir auf ein gelbes horizontales Rechteck, das für einen Moment zu einer quadratischen Form aus den drei Grundfarben wird, bevor es von einer imposanten roten vertikalen Linie nach links weggezogen wird. Das unterschiedliche visuelle Gewicht der Farben hat einen Einfluss auf die Unmittelbarkeit, mit der die Beziehungen wahrgenommen werden. Das Auge wandert entlang der Linien, bleibt stehen, wählt eine bestimmte Konfiguration aus und verweilt darauf, aber rundherum wird der Raum durch die wechselnde Dominanz der verschiedenen Farben und Richtungen wieder in Bewegung gesetzt.

Quadratische Formen entstehen und lösen sich in verschiedenen Kombinationen zwischen gelben, roten und blauen Linien auf. Die permanente schwarz-weiße quadratische Einheit der 1920er Jahre ist nun dynamisch und vielfältig geworden; nicht nur in Bezug auf die Form, wie wir in der Komposition N. 12 mit Blau gesehen haben, sondern auch in Bezug auf die Farbe. Wahres Gleichgewicht und einheitliche Synthese von Gegensätzen wird jetzt nur noch erreicht, wenn die verschiedenen Farben gleichzeitig vorhanden sind und nicht mehr nur, wenn es eine Gleichwertigkeit von Horizontale und Vertikale gibt.

Diagramm 6b: Wichtig scheint mir die Tatsache, dass unten rechts die Farbe Gelb und nur Gelb Rechtecke ausdrückt, in denen die eine oder andere Richtung überwiegien (10). Es handelt sich um die einzigen drei Proportionen, die aus Geraden ein und derselben Farbe gebildet sind. In diesem Fall sind die verschiedenartigen Beziehungen zwischen den gegensätzlichen Richtungen von einem chromatischen Gesichtspunkt aus allesamt homogen. Hier ist es nur die Form, die die Veränderungen ausdrückt. Die Rechtecke, die gänzlich gelb bleiben, sind kleiner als jene, die sich aus verschiedenfarbigen Geraden bilden; diese erscheinen wie kleine Grundeinheiten, die, wenn sie wachsen wollen, sich der Verschiedenheit öffnen und mit anderen Farben vermischen müssen. Man denke an die menschlische Gesellschaft.

 

Diagram 6c

6 - New York City

Diagramm 6c: Wir bemerken nun, dass sich eine quadratische Proportion innerhalb eines vertikalen Feldes entwickelt, das sich von unten bis oben durch die Mitte des Bildes erstreckt (sieh in Sequenz die Diagramme 6d, 6e, 6f, 6g, 6h)

 

Diagramm 6d

Diagramm 6e

Diagramm 6f

Diagramm 6g

Diagramm 6h

Von unten nach oben gelesen, sehen wir: eine rote Gerade und eine blaue Gerade, die ein rechteckiges Feld (Diagramm 6d) markieren, das von horizontalen gelben Geraden durchzogen wird, die ein mögliches Quadrat (6e) evozieren, das sich in 6f realisiert.
Die leichte vertikale Prävalenz, die sich in dem Quadrat durch die simultane Gegenwart des Blau und des Rot herstellt, ruft weiter oben eine Gegenreaktion hervor, und das Quadrat dehnt sich nun erneut im horizontalen Sinne (6g) aus. Die größere Sichtbarkeit der beiden blauen horizontalen Geraden markiert für einen Augenblick eine vertikale Proportion (6h), die einer gegenläufigen Ausdehnung unterliegt und in den dynamischen Raum der Geraden zurückfließt.
Die Komposition zeigt abwechselnde Prävalenzen in die eine oder andere Richtung (c, d), die für einen Augenblick eine dynamische Äquivalenz erreichen (e), die sich dann neuen Prävalenzen öffnet (f, g, h). Dies erinnert, mutatis mutandis, an die kompositorische Entwicklung von Pier and Ocean 5 (sieh Diagramm unten).

 

Pier and Ocean 5, 1915 - Diagramm

New York City, 1942 - Diagramm

 

 

1 - 1920

2 - 1921

3 - 1932

4 - 1933

5 - 1942

Man betrachte in einer einzigen Sequenz 1, 2, 3, 4, 5: 1921-22 hatten die Farben die Funktion, einen Raum zu dezentrieren und dynamisieren, der von einem einzigen großen, aus schwarzen Geraden gebildeten Quadrat dominiert wurde (1). Im Laufe von zwanzig Jahren saugt sich das Quadrat mit Farben voll (2, 3, 4) und vervielfacht sich 1942 über die ganze Bildfläche, indem es zwischen den verschiedenen Farben die Position, Proportion und gegenseitige Beziehung wechselt.
Dié einzelne weiß-schwarze Einheit von 1922 hat sich mit dem vielfältigen Raum durchdrungen und ist nun selbst dynamisch und bunt.

 

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Study I for Broadway Boogie Woogie, 1942

Study II for Broadway Boogie Woogie, 1942

Broadway Boogie Woogie, 1942-43

Die existierende Bibliographie weist zwei sichere Vorstudien zum Broadway Boogie Woogie auf. Darüber hinaus gibt es zwei Zeichnungen (katalogisiert als Studies for Broadway Boogie Woogie?), die sich vermutlich auf Broadway Boogie Woogie beziehen. Manche meinen, es handle sich um Studien, die der Künstler nach Vollendung des Bildes angefertigt hat, mit der Intention, noch einige Modifikationen an dem Bild anzubringen. Mir scheint, dass es sich um Studien um ihrer selbst willen handelt – in Hinblick auf ein neues Werk. Doch das ist nur ein nicht verifizierbarer Eindruck. Die wirklichen Studien für den Broadway Boogie Woogie sind meiner Meinung die zwei oben abgebildeten Skizzen Study I und Study II.

In den zwei Zeichnungen entwirft Mondrian rechtwinklige Geraden, die wie in New York City ohne Unterbrechung das ganze visuelle Feld durchziehen. Zwischen die Geraden fügt der Maler dann einige kurze Segmente ein, die aufgrund ihrer Proportion fast wie kleine Flächen erscheinen.

 

1 - New York, 1941-42

2 - New York City 3, 1941

3 - New York City 1, 1941

4 - New York City, 1942

Zwischen 1941 und 1942 gehen die Geraden in Rot auf (1) und dann gleichzeitig in Gelb, Rot und Blau (2, 3, 4); in der Folge verschwinden die Farbflächen. In den neoplastischen Kompositionen drücken die Flächen einen endlichen Raum aus, während die Geraden eine virtuell unendliche Kontinuität ausdrücken.

Mit dem Eintritt der Farbe – die sich bis dahin immer als Fläche ausgedrückt hatte – in die Geraden, 1941, sieht sich Mondrian mit Kompositionen konfrontiert, die keinen Stillstand kennen (3 und 4). In New York City (4) scheint der dynamische Aspekt den maßvolleren und konstanteren Aspekt der Flächen zu übertönen; der unendliche Raum überwiegt den endlichen, die Vielfalt das Eine. Kaum lässt sich eine stabilere Beziehung ausmachen, da wird sie schon in den dynamischen und kontinuierlichen Fluss der Geraden hineingezogen. In 4 sieht man nicht einmal mehr jene Segmente, die sonst in den vorhergehenden neoplastischen Kompositionen immer da gewesen waren. In 4 fehlt eine endliche und beständigere Komponente, die den dynamischen Verlauf der Geraden ausbalanciert und auf diese Weise dem Raum eine gewisse Fortdauer gibt.

War es seit 1933 notwendig, die einheitliche Synthese dem vielfältigen Aspekt zu öffnen, so wird es nun (1942) notwendig, in einem Raum, der sich in der Zwischenzeit bemerkenswert vervielfacht hat und mit den Geraden allein nicht zum Stillstand kommt (4), einen größeren Grad an Synthese und Konstanz wiederherzustellen.

Wie oben gesagt, wurde die Komposition in der ganzen europäischen neoplastischen Phase nicht nur von schwarzen Geraden und Farbflächen, sondern auch von Segmenten skandiert, die in einigen Punkten zur Eingrenzung der Farbflächen beitrugen. Segmente sind endliche Maße und stellen daher eine Vermittlung zwischen dem unendlichen Raum der Geraden und dem endlichen der Fläche dar.

In den zwei Skizzen für Broadway Boogie Woogie von 1942 konzentriert sich Mondrian auf eben diesen Übergang von der Gerade zur Fläche, von einem endlichen zu einem unendlichen Raum, und drückt ihn durch diese kleine Segmente aus, die jedoch keine schwarzen Segmente mehr sind, die Farbfelder eingrenzen (wie in der ganzen europäischen neoplastischen Phase), sondern seit 1941 farbige Segmente (wie die Geraden). Diese werden also in dem Maße, indem sie an Stärke zunehmen, zu kleinen farbigen Flächen.

 

Es sei daran erinnert, dass schon 1926 und dann 1930 und 1933 die Geraden in dem Maße, in dem sie stärker wurden, manchmal Flächenproportionen suggerierten.

Die erste Skizze scheint aus den Armen geschüttelt zu sein, während die zweite, genauere, die Idee der ersten präzisiert. In der zweiten Zeichnung ist die Intention, den dynamischen und kontinuierlichen Raum der Geraden in endliche und beständigere Beziehungen zu überführen, deutlich erkennbar; einige Segmente sind ausgesprochen vertikal, andere entschieden horizontal, bis hin zu Beziehungen, in denen Horizontale und Vertikale zu einem Gleichgewicht kommen und sich gegenseitig neutralisieren.

In dem Segment, das der Gerade entstammt und zur Fläche tendiert, findet Mondrian ein Ausdrucksmittel für eine endliche und beständigere Dimension innerhalb eines nur von Geraden lebenden Raumes – was den Übergangspunkt von New York City zu Broadway Boogie Woogie bilden wird, wo in der Tat Farbflächen erzeugt werden, d.h. endliche und tendenziell beständigere Räume, die den dynamischen Verlauf der Geraden ausbalancieren.

 

New York City

NewYork City Diagram

Broadway Boogie Woogie

Ein anderer Aspekt, der in New York City unzufriedenstellend ist, besteht darin, dass an den Treffpunkten zwischen den verschiedenfarbigen Geraden nicht mehr eine einzige homogene Ebene ist wie bei den schwarzen Geraden, sondern die Prävalenz einer Farbe über die andere. Bis auf einen Punkt verläuft das Blau immer ‚hinter’ dem Gelb und Rot; dieses verläuft vier Mal ‚vor’ dem Gelb und immer ‚vor’ dem Blau. Die Farben scheinen auf drei verschiedenen Ebenen zu liegen: Gelb, Rot und Blau erscheinen jeweils auf einer ersten, zweiten und dritten Ebene. Die Überlagerung produziert einen so unerwarteten wie unerwünschten dreidimensionalen Effekt, mit dem Mondrian nicht zufrieden sein konnte, da es gerade eine der Intentionen des holländischen Malers gewesen war, jede perspektivische Illusion einer angeblichen und inexistenten dritten Dimension auszuschließen, um die Realität der Welt in den zwei realen Dimensionen des Bildes auszudrücken. Seitdem stellt sich das Problem, die drei verschiedenen Ebenen des Gelb, Rot und Blau auf eine einzige Ebene zurückzubringen.

Der Übergriff des Gelb auf das Rot oder des Rot auf das Blau wird dadurch wieder ausgeglichen, dass jede Gerade in etwas seitlicher Versetzung das Bruchstück der zuvor bedeckten rechtwinkligen Gerade wiederherstellt (sieh New York City Diagramm). Die Wiederherstellung der einen und einzigen Ebene geschieht über die Vereinigung der drei Farben, nicht ohne deren spezifische Qualität zu bewahren: gelbe, rote und blaue Portionen beginnen, sich innerhalb jeder Geraden in der Gestalt kleiner Quadraten zu durchdringen. So entsteht der Broadway Boogie Woogie.

Bezüglich des Gemäldes werde ich ab jetzt die Abkürzung BBW gebrauchen. Für die Erläuterung dienen mir Diagramme, mit denen ich die Geometrie des Gemäldes zerlegt und analysiert habe. Bitte beachten Sie, dass die Diagramme nicht als Hinweis darauf zu verstehen sind, wie Mondrian die Leinwand nach und nach bemalt hat, sondern eher als visuelle Hilfe zum Verständnis der Bedeutungen.


A

B

C

D

E

F

In einer Sequenz betrachtet, helfen uns die Diagramme bei der Visualisierung eines dynamischen Prozesses. Was Maße, Proportionen oder Farben betrifft, sind die Flächen des BBW fast alle voneinander verschieden. Diagramme C und D: Einige Flächen drücken eine vertikale Prävalenz aus, andere entwickeln sich mehr horizontal; einige werden von einer einzigen Farbe und andere von zwei Farben gebildet. Eine einzige Fläche (Diagramm E / 17), die größte, drückt die drei Primärfarben in Zusammenfassung aus. Wie bereits erwähnt, hielt Mondrian es nach der Fertigstellung von New York City im Jahr 1942 für notwendig, wieder ein größeres Maß an Synthese und Konstanz in den Raum zu bringen, der in der Zwischenzeit eine beträchtliche Vervielfältigung erfahren hatte und sich ununterbrochen mit den Linien allein fortsetzte. Die Fläche (Diagramm E / 17) ist die einheitliche Synthese, die in New York City fehlte.

 

Im Vergleich der beiden Bilder sehen wir einen sich virtuell ins Unendliche erstreckenden gelben, roten und blauen Raum (New York City) sich in der endlichen Dimension dieser drei Farben verdichten.

Der sich in New York City ununterbrochen fortsetzende Raum findet in Broadway Boogie Woogie zu größerer Beständigkeit und Dauer.

New York City

BBW

 

 

Sehen wir uns nun im Detail an, wie BBW die Synthese entwickelt.

 

New York City

New York City - Diagramm

BBW

Die Durchdringung der farbigen Geraden erzeugt im BBW eine Anzahl von grauen, gelben, roten und blauen kleinen Quadraten.

 

BBW

BBW Diagramm A

In Wirklichkeit gibt es keine gelbe kleine Quadrate, sondern größere Raumintervalle zwischen grauen, roten und blauen kleinen Quadraten; selten tritt das Gelb in der Gestalt des kleinen Quadrates auf, viel öfter jedoch in der des linearen Segments. Daher sind die Geraden des BBW vorwiegend gelb.
Die gleichförmigen Geraden von New York City treten hier in eine direkte Kommunikation; Fragmente der Horizontalen dringen ins Innere der Vertikalen und umgekehrt. Zum ersten Mal bringt in einem Gemälde des holländischen Künstlers jede Gerade klar und deutlich innerhalb ihrer selbst gegensätzliche Impulse zum Ausdruck.
Man denke an einige Rauten aus der Mitte der 20er Jahre und besonders an Lozenge with Four Yellow Lines, wo die Geraden in dem Maße, in dem sie an Stärke zunehmen, einen gegensätzlichen Impuls evozieren, wenn auch noch in virtueller Weise.

Jede horizontale Gerade kontrastiert mit dem vertikalen Teil der kleinen Quadrate, so wie ihre horizontale Komponente, wenn auf einer vertikalen Gerade angesiedelt, einen Gegensatz ausdrückt. Es handelt sich also um Entitäten in instabilem Gleichgewicht zwischen Horizontaler und Vertikaler; um genau zu sein, zeigen die kleinen Quadrate variable Proportionen: einige entwickeln eine leicht horizontale Prävalenz, andere eine vertikale Dominanz und wieder andere scheinen quadratische Proportionen anzunehmen. Innerhalb der Geraden befinden sich die kleinen Quadrate in ständiger leichter Ausdehnung und Kontraktion.

Alles scheint sich in Diagramm A ununterbrochen zu verändern; jeder Punkt und jeder Moment tritt einzig und unwiederholbar auf; auch wenn er sich in der Farbe wiederholt, so wechselt er doch leicht die Form und umgekehrt. Jeder Punkt dauert nur einen Augenblick und verwandelt sich dann schon in einen nächsten Augenblickspunkt. Ein derartiger Raum kann sehr wohl die veränderliche Varietät der Formen, die sich im Raum der physischen Realität abwechseln, repräsentieren, oder auch einen Wechsel von inneren Impulsen, die nur einige Sekunden andauern.

 

BBW

BBW Diagramm B

In der Betrachtung des hektischen Wechsels der kleinen Quadrate lassen sich einige (rote oder blaue) ausmachen, die sich mit Paaren von grauen kleinen Quadraten vereinigen; die roten oder blauen kleinen Quadrate erscheinen daher wie zentrale Punkte einer kleinen symmetrischen Konfiguration (Diagramm B).

 

BBW

BBW Diagramm C

In Diagramm C heben sich ausgedehntere symmetrische Konfigurationen heraus, die aus einer wachsenden Zahl von kleinen Quadraten gebildet sind.
Die in Diagramm B markierten ersten, sporadischen Symmetrien gewinnen innerhalb der Geraden an Raum.
Die Symmetrie ist eine Raumausdehnung, die einen geregelten Rhythmus aufweist, der sich aus der Wiederholung derselben Elemente ergibt. Der veränderliche Raum der Geraden, d.h. der flüchtige Gang der stets veränderten kleinen Quadrate, verwandelt sich mit den Symmetrien in einen beständigeren Raum.
Die in Diagramm C markierten Symmetrien können als Portionen des gemessenen und daher endlichen Raumes angesehen werden, der sich innerhalb eines unendlichen Raumes, wie es die Geraden sind, erzeugt; als ob sich der unermessliche Raum der Geraden für einen Moment zu einem endlichen Segment (der symmetrischen Symmetrie) zusammenzöge, um sich dann erneut unendlich auszudehnen.

Das kleine Quadrat entsteht in dem Augenblick, in dem sich zwei rechtwinklige Geraden treffen, um sich dann wieder voneinander zu entfernen. Der absolute Raum jeder einzelnen Gerade wird in den kleinen Quadraten zu einem relativen Raum. Der endliche und relative Charakter der kleinen Quadrate setzte sich also der unendlichen und absoluten Natur jeder Gerade entgegen.
Ab diesem Moment wohnen wir einer Dialektik bei, die sich zwischen einer Tendenz der kleinen Quadrate, den unendlichen Raum der Geraden in Richtung einer endlichen Dimension (d.h. ihrer eigenen Natur) zu verdichten, und einer gegensätzlichen Tendenz der Geraden, sich in Richtung eines absoluten Raumes (nur einer oder der anderen Richtung) grenzenlos auszudehnen, abspielt; eine Ausdehnung, die die vom kleinen Quadrat repräsentierte Beziehung zwischen der Horizontalen und der Vertikalen trennt und daher dazu tendiert, sie als einheitliche Synthese der Gegensätze zu negieren.
Die gleichzeitige Präsenz der Horizontalen und Vertikalen, die die eigentliche Natur eines jeden kleinen Quadrats konstituiert, wird durch jede einzelne Gerade, auf der sich das kleine Quadrat befindet, "fatalerweise" wieder aufs Spiel gesetzt. Die tendenziell statische Veranlagung des kleinen Quadrats wird von der dynamischen Natur der Geraden ständig gereizt. Zwei gegensätzliche Tendenzen, wohlgemerkt, ein und desselben Raumes.

Eine aufmerksame Betrachtung der sich auf den Geraden bildenden Symmetrien ergibt, dass es sich tatsächlich nicht um ganz regelmäßige und genaue geometrische Strukturen handelt; die Abwechslung der Farben ist zwar symmetrisch, doch die Größe der kleinen Quadrate und der Raum zwischen den kleinen Quadraten ändern sich ständig. Es handelt sich also um flexible, vom Dynamismus der Geraden ständig angetriebene Symmetrien. Die Symmetrien müssen in elastischer Weise gesehen werden: Einerseits versuchen sie, den unendlichen Raum der Geraden zu zügeln und zu skandieren, andererseits üben die Geraden umgekehrt auf die von den Symmetrien in Gang gesetzte Konzentration eine expandierende Wirkung aus.
Man denke an die Beziehungen, die der Künstler um 1910 zwischen dem Raum der Architekturen (Windmühlen, Leuchttürmen, Kirchen) und dem der Dünen sah: Ersterer tendiert dazu, die physische Ausdehnung der Welt in sich selbst (dem eigentlich mentalen Raum) zu konzentrieren, während letzterer eben diese ins virtuell Unendliche erweitert.

 

BBW

BBW Diagramm C

Im Diagramm C mit 1 markierten Bereich bemerken wir eine gewisse vertikale Korrespondenz zwischen zwei horizontalen Symmetrien. Es handelt sich um eine Korrespondenz, die durch die Bewegung der Geraden leicht zerfahren erscheint. An Punkt 2 beobachten wir eine ähnliche, sich zwischen zwei vertikalen Symmetrien herstellende Situation, und diesmal ist die Korrespondenz vollständig: Zwei vertikale Symmetrien mit einer roten Mitte stellen untereinander eine horizontale Symmetrie her. In dem Moment, in dem wir zwischen zwei Symmetrien eine horizontale Beziehung betrachten, erzeugen wir tatsächlich ein ausgedehnteres Feld, d.h. eine Fläche, die den Raum zwischen den beiden vertikalen Geraden bedeckt. In Diagramm D beobachten wir gerade an diesem Punkt (2) die Entstehung einer kleinen blauen Fläche und dann anderer Flächen.

 

BBW

BBW Diagramm D

Wie die kleinen Quadrate drückt jede dieser neuen Entitäten eine gewisse Beziehung zwischen gegensätzlichen Richtungen aus; im ausgedehnteren Raum einer Fläche jedoch dauert die Beziehung zwischen Horizontale und Vertikale für eine größere Zeitspanne an als in den kleinen Quadraten innerhalb der Geraden.
Im Vergleich zu den kleinen Quadraten, aus denen sie sich entwickelt haben, erscheinen die Flächen stabiler in Bezug zum dynamischen und instabilen Fluss der Geraden; stabiler, aber immer noch in dynamischem Gleichgewicht zwischen den beiden gegensätzlichen Richtungen; einige unterliegen einem größeren horizontalen Einfluss, andere einer vertikalen Dominanz und eine scheint einen relativen Gleichgewichtszustand zwischen den gegensätzlichen Richtungen erreicht zu haben.
Die Flächen wachsen in alphabetischer Reihenfolge in der Größe an. Einige sind noch teilweise mit dem Raum der Geraden verschmolzen, einige sind davon getrennt und andere erscheinen völlig an sich selbst. Auf den ersten Blick scheinen zwei Flächen (5 und 7) gleich zu sein, doch zeigt sich 5 bei einem näheren Blick mehr vertikal entwickelt. In ihrer Gesamtheit zeigen die in Diagramm D markierten Flächen eine Varietät verschiedener Situationen in instabilem Gleichgewicht zwischen Horizontaler und Vertikaler, zwischen Gelb, Rot und Blau; ein wechselhafter, aber tendenziell synthetischerer Raum im Vergleich zu dem in Diagramm A markierten.

 

BBW

BBW Diagramm E

Die Fläche 8 dehnt sich nach unten aus und zieht ein Bruchstück der grauen horizontalen Gerade mit sich (9), die, übersetzt in die Vertikale, zu einem rechteckigen Feld innerhalb der Fläche 9 avanciert. Die Flächen 8 und 9 sollen als zwei sukzessive Momente einer dynamischen Sequenz gesehen werden, die eine gelbe Fläche in eine Fläche verwandeln, die aus zwei Farben (gelb-grau) gebildet ist.
Statisch betrachtet, erscheinen die beiden Flächen 8 und 9 wie ein einziges vertikales Band. Übernehmen wir eine dynamische Sicht, wie es die neoplastische Malerei erfordert, ist dieses Band nichts anderes als das Werden einer kleineren Fläche (8), die einen Moment später zu 9 wird.

Dadurch entstehen neue Flächen (Diagramm E), die im Vergleich zu den in Diagramm D beobachteten einen Innenraum von anderer Farbe zeigen.

In der Fläche 9 überwiegt die Vertikale; daher ist das innere graue Band leicht mehr horizontal entwickelt. Ähnlich, aber umgekehrt, wird die Fläche 10 von einem roten vertikalen Segment ausbalanciert, so wie ein graues horizontales Segment ein Gegengewicht zur roten vertikalen Prävalenz von 11 bildet. Der Raum des BBW lebt von ständigen Kontrasten und gegenseitigen Oppositionen.

 

BBW

BBW Diagramm E

Betrachten wir 9, 10 , 11, 12, 13, 14 in der Sequenz, sehen wir, dass sich der Verinnerlichungsprozess des Raumes (der mit 9 begonnen hatte) in anderen Flächen fortsetzt, wo sich das graue Feld, das in 9 auf den Seiten noch offen war, verdichtet und sich in Form eines kleinen Quadrats (12, 13, 14) verfestigt. Es lässt sich ein Übergang von Linearität, die in Spannung zur Anordnung der Flächen (9, 10, 11) steht, zu einer ausgewogeneren Konfiguration beobachten, die die Opposition innerhalb der Fläche selbst reduziert (12, 13, 14).

Betrachten wir für einen Moment die Fläche 12 im Verhältnis zur Fläche 13: Erstere unterliegt einem stärkeren Einfluss der Horizontale, während letztere eine entschiedene vertikale Prävalenz entwickelt. Die zwei inneren Vierecke scheinen das mit den jeweiligen gelben Teilen der Flächen so deutlich zum Vorschein kommende Ungleichgewicht zu reduzieren. Die inneren Vierecke sind ein erstes schüchternes Zeichen (Grau ist der zarteste Farbwert) einer inneren gemeinsamen Natur; einer beständigeren Natur, die sich von der hektischen und widersprüchlichen Bewegung der äußeren Geraden absetzt.

Fassen wir die verschiedenen, bis beobachteten Verwandlungsphasen des Raumes in einer einzigen visuellen Sequenz zusammen.

Von diesem Augenblick an können wir die Geraden als eine äußere Situation und die Flächen als Entstehung und Entwicklung eines inneren Zustandes eines selben Raumes betrachten, der von Außen nach Innen ununterbrochen übergeht. Die Geraden werden zu Flächen; ein unendlicher Raum verwandelt sich in einen endlichen Raum. Während wir die endlichen Felder der Flächen betrachten, laufen die Geraden ununterbrochen weiter; das Auge findet sich daher in einem instabilen Ungleichgewicht zwischen einem ausgedehnten Raum (Symbol der unermesslichen Realität der physischen Welt) und einem selben Raum, der dazu neigt, sich in sich zu verdichten (der durch die Flächen hervorgerufene Denkraum).

 

BBW

BBW Diagramm F

In Diagramm F sehen wir an den Punkten 15 und 16, wie sich der Raum weiter verinnerlicht und es nun vier Farben sind, die sich im Bereich zweier einziger Flächen verdichten: Blau und Gelb in 15; Rot und Grau in 16. In ihrer formalen Entwicklung sind die beiden Flächen äquivalent, aber gehen auf der Farbebene gegensätzlich und komplementär hervor: jede ist von Farben charakterisiert, die der anderen fehlen. Am Punkt 17 erreichen wir schließlich eine einzige Fläche, die die drei Grundfarben in einer Synthese ausdrücken.

Die gegensätzlichen Richtungen der Farben Gelb, Rot und Blau, die am Anfang des Prozesses noch unser Sichtfeld zersplitterten und unser Auge in ständiger Bewegung hielten (Diagramm A), kommen hier zu einer einheitlichen Synthese.
Man beachte, wie in den beiden Flächen 15 und 16 ein Viereck ein Gleichgewicht und eine Synthese der gegensätzlichen Richtungen ausdrückt, während ein Segment dem Feld, zu dem es gehört, noch Widerstand leistet.
Wir haben in den Flächen 12, 13, 14 gesehen, wie sich aus einem Segment (10, 11) ein inneres Viereck (12, 13, 14) entwickelt. Das den beiden Flächen 15 und 16 innere Segment ist also Indiz eines potentiellen zweiten inneren Vierecks, das sich dort bald in der Fläche 17 entwickeln wird.
Die den beiden Flächen 15 und 16 inneren Segmente sagen uns, dass sie noch unter dem Einfluss des Dynamismus der äußeren Geraden stehen, im Vergleich zum Dynamismus der Fläche 17, wo hingegen der ganze Raum (Gelb, Rot und Blau) zu einer ausgeglicheneren Beziehung zwischen Horizontaler und Vertikaler kommt; einer "vertikalhorizontalen" Einheit, die bei aller Teilnahme an der Wechselwirkung zwischen den gegensätzlichen Richtungen die Opposition und den Kontrast in eine gelungene Balance aufzulösen scheint. Im Vergleich zum umliegenden Raum drückt der Raum dieser Fläche, wenn auch dynamisch, einen relativen Ruhezustand aus.

 

BBW

BBW Diagramm A

BBW Diagramm C

BBW Diagramm D

BBW Diagramm E

BBW Diagramm F

Fassen wir nochmals die Geometrie, die wir bis hier in einzelnen Teilen analysiert haben, zusammen, sehen wir, dass im BBW die Geraden eine Vielfalt von kleinen Quadraten erzeugen (Diagramm A), die kleine Quadrate Symmetrien ins Leben rufen (Diagramm B), aus denen dann einfarbige Fläche entstehen (DIagramm D); diese verwandeln sich in eine bestimmte Anzahl von zweifarbigen Flächen (Diagramm E), die dann zu einer einzigen Fläche, Synthese der drei Primärfarben, werden (Diagramm F). Der Raum des BBW verwandelt sich ununterbrochen von einem Zustand der Vielfältigkeit in einen der Einheitlichkeit. Von der Vielheit zum Einen.

 

Im BBW kommt wieder eine sichtbare Einheit der Komposition zum Vorschein, nur diesmal in ganz neuer und origineller Form.

 
   

New York City

BBW

 

1 - 1915

2 - 1919

3 - 1927

4 - 1933

So ist im BBW zum ersten Mal die einheitliche Synthese kein skizziertes Quadrat (1) oder ein weißes Rechteck mehr (2), kein von schwarzen (3) oder gelben (4) Geraden markiertes weißes Quadrat, sondern eine Konzentration von Gelb, Rot und Blau; ein freies und unberechenbares Spiel der Form, das von der jeweiligen Qualität und Quantität der Farben abhängt.

In der einheitlichen Fläche des BBW ist das erlangte Gleichgewicht von dynamischer und nicht tendenziell statischer Natur – wie es noch das Quadrat war, in dem der Maler ab 1915 eine Äquivalenz der Gegensätze gesehen hatte. Wahr ist zwar, dass die quadratische Proportion von Mondrian immer flexibel und dynamisch gehandhabt worden ist, aber ebenso wahr ist, dass in gewissen Phasen das Quadrat die Entwicklung des neoplastischen Raumes, zumindest bis 4, dominiert hat.
Von 1915 bis 1940 dient die quadratische Proportion dem Maler als eine Art Referenzpunkt, von dem aus er dann seine Kompositionen dem Wechsel aussetzen kann. Am Ende dieses Prozesses (BBW) ist der Raum des Holländers asymmetrisch und gänzlich bunt, vielfältig und zugleich einheitlich.

 

       

1

2

3

4

Zum ersten Mal ist die einheitliche Synthese eine Fläche, die aus drei Primärfarben zugleich zusammengesetzt ist.

Man denke an die verstreuten Rechtecke von 1917, denen die Einheit fehlte (1); diese finden nun ihre Synthese in einer einzigen Fläch.

Man denke auch an 3 mit den drei größeren Rechtecken (je gelb, rot und blau) innerhalb des mittleren weißen Rechteckes.
Der erfolglose Versuch, das weiße Rechteck mit den farbigen Rechtecken in einer einzigen quadratischen Proportion einheitlich zu durchdringen (4), findet im BBW schließlich eine zufriedenstellende Lösung; im Unterschied zu damals nämlich, wird jetzt eine Synthese der Horizontalen und Vertikalen, von Gelb, Rot und Blau sehr wohl sichtbar.

 

 

* * * * *

 

 

BBW

BBW Diagramm G

Diagramm G: Die Fläche 18 hat dieselbe Größe wie die Fläche 17, ist aber nicht mehr aus den drei Primärfarben gebildet, sondern nur aus Rot und Grau.
Der innere Raum der Fläche zeigt ein graues Viereck und zwei ebenfalls graue Segmente, von denen eins zu einer horizontalen Gerade gehört, die die Fläche durchzieht. Das Viereck ist ein Zeichen von Beständigkeit und größerer Balance zwischen den beiden gegensätzlichen Richtungen, während die zwei Segmente, vor allem das zur Gerade gehörende, in deutlichem Kontrast zur vertikalen Anordnung der Flächen eine Bewegung in Richtung Horizontale signalisieren.

Nach der in der Fläche 17 erreichten Äquivalenz und der Synthese der drei Primärfarben schränken sich in der Fläche 18 die Farben ein, und der äußere Dynamismus der Geraden kommt wieder zum Vorschein und schafft eine neue Opposition. Die horizontale Gerade, die die vertikale Fläche plötzlich durchläuft, tendiert dazu, die vor erreichte Äquivalenz der Gegensätze visuell aufzulösen.

Nach der in der Fläche 17 erreichten relativen Ruhe, Beständigkeit und Einheit scheint sich der Raum mit der Fläche 18 wieder in Bewegung zu setzen: die einheitliche Synthese öffnet sich wieder dem äußeren Raum, die Farben zersetzen sich und kehren wieder in den dynamischeren und veränderlicheren Raum der Geraden zurück.

Der uns durch die Fläche 18 gegebene Hinweis findet in der Fläche 19, in der Blau, Gelb und Rot übereinander liegen und nicht mehr wie in der Fläche 17 gegenseitig durchdrungen sind, eine weitere Bestätigung. Die Übereinanderlagerung gibt Eindruck einer geringeren Dichte und Festigkeit des Ganzen im Vergleich zur Durchdringung, die gleichwohl die drei Farben in einer einzigen und stabileren Struktur verschmilzt. Man beachte, wie das Gelb auf der rechten Seite dazu neigt, über den Umfang der Fläche hinauszugehen, um in das Gelb der umliegenden Geraden zusammenzulaufen. Die Fläche 19 kann also als die sich in Auflösung befindende Fläche 17 erscheinen.

 

BBW

BBW Diagramm H

Mit 20 habe ich eine Konfiguration markiert, die mir den Abschluss der Wiedereröffnung der einheitlichen Synthese repräsentieren zu können scheint.
Diese Konfiguration scheint eine Fortsetzung des Auflösungsprozesses von 19 zu sein; der gelbe Teil, der in 19 nach rechts auszubrechen neigt, wird in 20 zum äußerlichen Raum der Geraden. Vom dynamischen Lauf der Geraden gepackt, öffnen sich in 20 die in 19 noch übereinander liegenden drei Bereiche Blau, Gelb und Rot und entfernen sich voneinander, um erneut zu einer Vielfalt von kleinen gelben, roten und blauen Quadraten zu werden (Diagramm H).

Der Raum schreitet von einem relativ statischen und gänzlich inneren Zustand (17) zu einer wachsenden Instabilität (18) fort, die sich stufenweise (19 und 20) in den dynamischeren und veränderlicheren äußeren Raum der Geraden verwandelt.

Zuerst hatten sich die Geraden in kleinen Quadraten konzentriert, dann in einer Gesamtheit von Flächen und diese in einer einzigen Fläche; nun öffnet sich die Einheit wieder und kehrt in den dynamischeren und vielfältigen Zustand der Geraden zurück. Man betrachte die zwölf Diagramme als eine einzige Sequenz.

 

BBW Diagramm D

BBW Diagramm G

Es wird nicht entgangen sein, dass die mit 20 markierte Konfiguration aus zwei Flächen (einer roten und einer blauen) besteht, die ich in Diagramm D mit 2 bzw. 3 bezeichnet hatte. 2 wurde als die erste Fläche identifiziert, die sich im Übergang von den Symmetrien zur den Flächen erzeugt, und 3 als eine jener Flächen, die zur ersten Entwicklungsstufe der einfarbigen Flächen gehören. Nun spielen dieselben Flächen eine vollständig andere Rolle. Nach unserer Lesart wäre die erste Fläche (2), die den Prozess hin zur einheitlichen Synthese (17) in Gang setzt, auch deren letztes Fragment (20). Gleiche Teile spielen je nach Kontext und Moment im BBW verschiedene Rollen.

 

Die Geometrie des BBW lässt sich also in einer dynamischen Sequenz zusammenfassen, die von einer Vielfalt von Geraden zur einheitlichen Synthese einer Fläche kommt und sich von der Einheit einer Fläche wieder zu einer Vielfalt von Geraden öffnet. Von einer Ausdehnung hin zu einer zunehmenden Verdichtung und dann von der Verdichtung wieder zur Ausdehnung: davon lebt der BBW – eine Idee, die der Maler bereits 1915 zum Ausdruck brachte, als er ein Zeichen der Äquivalenz in ein Quadrat aufnahm, das sich weiter oben zum vielfältigen Raum öffnet (Pier and Ocean 5).

Es ist die Horizontale, die sowohl in Pier and Ocean 5 als auch im BBW die Einheit erschließt. Wenn die Horizontale ein plastisches Symbol für das Natürliche und die Vertikale für das Geistige ist, so sagen uns beide Bilder, dass jede durch das Denken erzeugte Synthese (das Geistige) notwendigerweise partiell und vorübergehend ist und sich daher wieder dem vielgestaltigen und sich ständig verändernden Aspekt der physischen Realität und des Lebens (dem Natürlichen) öffnen muss. Das ist es, was alle vernünftigen Menschen tun, wenn sie ihre Gewissheiten im Lichte der Erfahrung in Frage stellen. Das tut die Philosophie seit Jahrhunderten, ebenso wie die Künste und vor allem die experimentellen Wissenschaften.

Anstatt sich bei einzelnen, getrennten Teile aufzuhalten, muss der Blick die verschiedenen Stadien des Prozesses in ein dynamisches Gleichgewicht bringen; die Geometrie muss in ihrem Werden gesehen werden; es geht darum, die Flächen im Moment davor zu sehen: während sie sich aus den Symmetrien entwickeln und diese, während sie sich mittels der kleinen Quadrate erzeugen, die wiederum aus der Wechselwirkung der gegensätzlichen Geraden entstehen, deren jede, für sich genommen, einen absoluten und unendlichen Raum ausdrückt, der jede mögliche Beziehung annulliert.

Der Raum des BBW geht in einer Vielfalt von Entitäten auf, die nach und nach zu einem Selben werden, das sich dann aufsplittert und erneut in einen Zustand der Vielfältigkeit übergeht – und dies unzählige Male und nach einem unendlichen Fluss, den der Maler in einer bestimmten Form fixieren musste, ohne dass er sich in ihr erschöpft hätte. Expansion und Konzentration; bei jeder Expansion ändert sich etwas, und jede nachfolgende Konzentration wird in neuer und anderer Form erscheinen, ohne dass sie von einer Energie oder Materie wäre. Wie die Natur: unermesslich verschieden und doch immer eine. Wie jedes einzelnes Ding: eins und zugleich vielfältig.

 

In der einheitlichen Fläche des BBW verwandelt sich der dynamische und virtuell unendliche Raum der Geraden in einen endlichen und beständigen Raum, der aber nicht als Ruhe im Sinne einer totalen Abwesenheit innerer Spannungen missverstanden werden darf. Die einheitliche Synthese des BBW muss vielmehr als eine zeitweilige Äquivalenz gegensätzlicher Impulse gesehen werden, die sich gegenseitig neutralisieren. Eine leicht horizontale Ausdehnung würde die Balance stören und einen Mechanismus des Gegensatzes in Gang setzen; denselben Effekt hätte eine wie auch immer minimale vertikale Verstärkung im Blau. Die Farbe bleibt zwar als solche, doch hängen ihre Größe und Proportion und damit auch ihr Wert vom Ton, der Proportion und der Größe der anderen Farbe ab. Die jeweiligen Größen und Positionen von Gelb, Rot, Blau müssen in ihrer Erzeugung eines freien Spiels gegenseitiger Spannungen gesehen werden; jede Proportion hängt von einer anderen ab und dies in einer unberechenbaren Entwicklung der Form, die nun direkt von der Farbe abhängt – anders als in den Werken zwischen 1915 und 1940, in denen die Form die Maße der Farben a priori festlegte.

In einer am 24. Mai 1943 J. J. Sweeney geschickten Notiz schreibt Mondrian: "Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Arbeit in Schwarz, Weiß und kleinen Farbflächen nur ein ‚Zeichnen’ in Ölfarben gewesen ist. Beim Zeichnen machen die Linien das Hauptmittel des Ausdrucks aus; beim Malen die Farbflächen."

In der ganzen europäischen neoplastischen Phase wurden Form und Farbe getrennt gehalten. Die Geraden begrenzten von außen die Farbflächen, ohne an ihrem Raum direkt teilzuhaben. 1941 wird die Zeichnung (schwarze Geraden) zur Farbe; und wenn im BBW die Geraden zu Flächen werden, gibt es zwischen Form und Farbe, Zeichnung und Malerei keinen Unterschied mehr.

 

In der Farbpalette des BBW macht Blau den dunkelsten Wert aus, weswegen sie also die Funktion auszuüben scheint, die früher dem Schwarz zukam. Tatsächlich lassen sich zwei Blautöne finden: einen dunkleren der kleinen Quadrate innerhalb der Geraden und einen helleren der Flächen. Diese doppelte Tönung lässt sich für keine der anderen Farben finden und scheint die Funktion des Blau in den Geraden auch als einen dunkleren Wert in Bezug auf das Blau der Flächen unterstreichen zu wollen. Weiß, Grau, Gelb, Rot und Blau bilden einen allmählichen Übergang von einem helleren zu einem dunkleren Wert; vom flüchtigen (Weiß) zum festeren und bestimmteren (Blau). Durch die kleinen grauen Quadrate zehren die gelben Geraden vom Weiß, um dann durch Rot im Blau zum entgegengesetzten Wert zu gelangen.

Im BBW avanciert die monotone Kontinuität der schwarzen Geraden zu einer variablen Sequenz von Tönen, die sich innerhalb derselben Gerade vom Hellen bis zum Dunklen, vom Leichten bis zum Schweren, vom Unbestimmten bis zum Bestimmten erstrecken. Gelb ist der mittlere Wert zwischen dem weißen und grauen Extrem (hell, leicht, unbestimmt) und dem roten und blauen Gegen-Extrem (dunkel, schwer, bestimmt). Wo sie grau wird und sich fast mit dem Weiß vermischt, scheint die Gerade des BBW zum Unbestimmten, zum Unsichtbaren, zum Zusammenhang aller Phänomene zu tendieren; in der Tat zur Negation der Zeichnung selbst. In den deutlicher mit Rot und Blau markierten Strecken neigt die Gerade gleichwohl zur deutlichen Bestimmtheit, d.h. zur Trennung des einen vom anderen. Die Dualität Helldunkel gewinnt an Spannung und avanciert innerhalb derselben Gerade zu einer flexiblen Struktur in instabilem Gleichgewicht zwischen den beiden gegensätzlichen Tönen (Weiß und Dunkelblau).

Mit diesem Gemälde gelingt es Mondrian, eine direkte und sichtbare Verbindung zwischen den gegensätzlichen Werten herzustellen: die Horizontale in der Vertikale auf formaler Ebene; das Hellere im Dunkleren und umgekehrt auf der Farbebene. In der Tat ist im BBW die Form bereits zur Farbe geworden.
Man denke an die doppelte schwarze Gerade von 1932-38, innerhalb deren sich eine weiße Gerade hervorhebt. Aus dem Weiß entspringt schließlich ein graduellerer Übergang zum Schwarz (Grau, Gelb, Rot, Blau). Man denke auch an die gelben Geraden von 1933, einen mittleren Wert zwischen dem Helleren und dem Dunkleren.

Interpretationen, die im BBW das Gelb im Vordergrund und das Blau auf der zweiten oder dritten Ebene sehen wollen, scheinen mir verfehlt. Es hat keinen Sinn, den neoplastischen Sinn dreidimensional zu sehen. Selbst bei zwei- oder dreifarbigen Flächen handelt es sich um ein Nebeneinander oder eine Durchdringung, nicht aber um eine Überlagerung, die als Raumtiefe interpretiert werden könnte. Akademische Regeln, nach denen eine blaue Fläche Tiefe suggeriert, während zum Beispiel eine gelbe Fläche im Vordergrund bleibt, überzeugen uns nicht. Wenn überhaupt, können wir über eine verschiedene visuelle Gewichtung der Farben reden. Blau kommt schwerer heraus, weil es visuell dunkler als gelb ist. Aber das gilt nicht notwendig und immer: Es gibt Bilder, in denen ein Gelb in gewisser Proportion mehr wiegt als ein Rot oder Blau. In der ganzen Malerei, aber hauptsächlich in der neoplastischen Sicht, hängt das Gewicht der Farben - ihr Wert - stets von deren Maß und gegenseitigen Position ab.

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BBW

BBW Diagram G

Oben wurde die Fläche 18 als in Auflösung befindliche Fläche 17 beschrieben. Zu den oben bereits angeführten Gründen möchte ich nun noch einige hinzufügen.
Das kleine vertikale Segment links von der Fläche 18 betont weiter unten die oben von der Fläche 17 besetzte Position, aus der es zu stammen scheint. Es ist, als ob die Fläche im Vergleich zu der Position, die sie oben besetzte, weiter nach unten gerückt wäre und zwar aufgrund der horizontalen Gerade, die die Fläche 18 durchzieht und sie nach rechts mitnimmt.

 

BBW

BBW Diagram O

Doch ist es nicht nur die Geometrie des "vollen" (grauen, gelben, roten und blauen), sondern auch jene des "leeren" (weißen) Raumes, die im Fall der Fläche 17 den Eindruck einer solideren und beständigeren und im Fall der Fläche 18 den einer sich in Auflösung befindlichen Entität verleiht. So bemerken wir, dass sich die Proportionen der Fläche 17 auf ihrer rechten Seite mit einem weißen Feld identisch wiederholen (Diagramm O). Auf der linken Seite der Fläche 17 hätte das weiße Feld die gleichen Proportionen wie die Fläche, käme nicht die kürzeste Gerade dazwischen.

Der Raum um die Fläche 17 macht aufgrund dessen, dass seine Proportionen fast dreimal identisch auftreten, den Eindruck von Beständigkeit. In jenem Bereich sind das "Leere" und das Volle äquivalent, was zur größeren Ausgewogenheit und Beständigkeit des Vollen beiträgt. Für einen Augenblick wird das Unsichtbare (Weiß) sichtbar (die Fläche mit den drei Farben).

 

1

2

3

4

 
       

Im BBW sehen wir eine Einheit, die sich in den drei Primärfarben ausdrückt und zugleich weiß ist (wie in der ganzen europäischen neoplastischen Phase).
Das würde die Bedeutung bestätigen, die Mondrian einem weißen Feld (1) und später dem weissen Feld einem Rechtecks (2) oder der Quadratische Proportion (3 und 4) als einer idealen Synthese der drei Primärfarben zuspricht.

 

BBW

BBW Diagram O1

Um die Fläche 18 herum nimmt der weiße Raum ganz verschiedene Proportionen an, deren keine die der Fläche betont. Es gibt eine Disproportion zwischen voll und leer, wobei das Volle zu überwiegen scheint, bis dahin, dass es das "Leere" dazu bringt, die Balance wiederherzustellen. Der Raum um die Fläche wird durch die Bewegung dieses vertikalen Segments und jener horizontalen Gerade, die bald wieder die Oberhand gewinnt und die Fläche erneut eröffnet, in Unruhe versetzt.

Auch der weiße Raum scheint also suggerieren zu wollen, dass die Einheit der Fläche 17 die höchste Stufe der Synthese darstellt, nach der der Raum sich wieder zu zersetzen beginnt. Ohne mir jemals die Mühe einer genauen Messung gemacht zu haben, habe ich doch den Eindruck, dass die quantitative Summe der vier Farben der Quantität an Weiß im BBW gleich oder annähernd gleich kommt. Wenn das "Volle" repräsentiert, was unseren Sinnen deutlich erscheint, und das "Leere" das, was wir nicht sehen können, das jedoch existiert und von wir zehren, wie können wir dann nicht umhin, die tiefe Weisheit und Wehmut dieser Geometrie zu empfinden? Was wir sehen, hängt auch davon ab, was wir nicht sehen.

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Der von mir im BBW aufgezeigte Prozess könnte den Eindruck eines vorgefassten Planes erwecken. Nach der Lektüre der eben gegebenen Erläuterungen werden sich einige fragen, ob im Kopfe des Malers während der Arbeit tatsächlich solche Gedanken vorgegangen sein mögen. Das kann natürlich nur der Künstler selbst beantworten, doch bin ich ziemlich sicher, dass er die Frage verneinen würde.

 

1

2

3

4

       

Der Prozess, der im Bild beobachtet wird, ist nicht das Ergebnis eines momentanen Planes. Dieses Werk fasst ein ganzes Leben zusammen. Dies ist ein Bild, in dem dem Künstler endlich die Synthese gelingt, die er angesichts der Unermesslichkeit der Welt in sich selbst gesucht hatte: in Stillleben (1), in den Landschaften (2), im Baum (3), in Pier and Ocean 5 (4). Die Außenwelt mit der Innenwelt zusammenzubringen, war Ziel eines ganzen Lebens.

Außerdem glaube ich nicht, dass Mondrian die oben erläuterten Phasen im BBW kalkuliert hat. Vielmehr denke ich, dass der Prozess ohne feste Planung während der Entstehung Gestalt angenommen hat. Dies sage ich als Maler, dem der wahre Sinn einiger Kompositionen erst im Nachhinein aufgegangen ist.

Cézanne: "Wenn er richtig fühlt, wird er richtig denken. Malerei ist vor allem eine Sichtweise. Gegenstand unserer Kunst ist, was unsere Augen denken."

Ich glaube, dass Mondrian bei der Komposition intuitiv und spontan vorgegangen ist; bei der Hinzufügung, Entfernung und Änderung von Teilen hat ihn keine präzise Ordnungsvorstellung geleitet. Um die Wahrheit zu sagen, glaube ich nicht, dass dieser Prozess Mondrian selbst nach Vollendung des Werkes vor Augen stand. In einem Gespräch mit J. J. Sweeney 1943 erklärte der Maler, er könne sich über das, was er mache, nicht ausreichend deutlich ausdrücken.

Mondrian hat den BBW nicht in der Art konzipiert, in der er erläutert wird. Er hat ihn gemalt - und für einen Maler, für einen wahren Künstler ist Malen gleich Denken. Die Überlegungen und Erläuterungen kommen, wenn überhaupt, erst danach; wenn das Spiel aus ist; der wahre Künstler steckt ganz in diesem intuitiven Spiel des Auges und nicht in den Reflexionen.

Ich denke an eine gelbe Gerade, die ununterbrochen verläuft, und an ein kleines rotes Quadrat in ihrem Innern. Wenn der Maler ein erstes und dann ein zweites graues kleines Quadrat hinzufügt, die zusammen mit dem roten eine Symmetrie bilden, hat er nicht die konzeptionelle Bedeutung der Symmetrie im Sinn. Nicht im geringsten. Er sieht und hat an der Hinzufügung des zweiten kleinen grauen Quadrats, das dem roten im geradlinigen gelben Fluss eingelassenen Punkt etwas mehr Stabilität verleiht, seinen Genuss. Sein Auge erfreut sich, wenn er sieht, wie die lebhaften und kontrastreichen Farben eine maßvolle Form und eine richtige und gegenseitige Proportion annehmen. Mondrian sieht, wie sich die Gerade erstreckt und das kleine Quadrat einen Verdichtungsimpuls auslöst. Es braucht keiner Überlegung. Der Maler sieht, und was er sieht, geht direkt ins Herz. So, glaube ich, hat er gearbeitet, und so arbeitet auch ein wahrer Künstler.

 

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Ich denke, man sollte auch ein paar Wort über den Titel, den Mondrian diesem Bild gegeben hat, verlieren. Broadway mag eine Hommage an eine Stadt gewesen sein, die ihn beherbergt hatte, so wie die Bilder Place de la Concorde und Trafalgar Square eine Hommage an Paris und London gewesen waren. Durch seine oberflächlichen Parallelen mit der äußeren Erscheinung der Stadt New York hat der Titel jedoch für nicht wenige Missverständnisse gesorgt.

Natürlich hat das Bild sehr wenig mit den Theatern des Broadway, den Lichtern der Wolkenkratzer und dem Straßennetz Manhattans zu tun. Wollen wir wirklich bei der Stadt bleiben, in der das Bild entstand, können wir, wenn überhaupt, an den pulsierenden Rhythmus, die Kontraste, die ständige Bewegung, die unendliche Vielfalt an Menschen, Situationen und unterschiedlichsten Momenten, die New York ausmachen, denken. Einer direkten Verbindung mit der Boogie-Woogie-Musik, die der Maler sicherlich mochte, würde ich wenig Bedeutung zumessen. Im Gespräch mit Sweeney erklärt Mondrian: "Ich fasse den wahren Boogie-Woogie als etwas auf, das mit meiner Intention in der Malerei übereinstimmt: Zerstörung der Melodie, was der Zerstörung der natürlichen Erscheinungsweise gleichkommt, und Aufbau durch ständige Gegenüberstellung reiner Mittel: dynamischer Rhythmus."

Durch eine Analogie mit dem Boogie-Woogie, so wie seinerzeit mit dem Foxtrott und dem Jazz, hat der holländische Maler – immer die Erziehungsfunktion der Kunst im Sinne – eine Parallele vorgeschlagen, die helfen soll, den plastischen Ausdruck auf einer anderen Ebene als der des Bildes zu verstehen - mit einer Sprache wie jener der Musik, die der neoplastischen Malerei vielleicht am nächsten ist, weil sich Musik immer schon abstrakt ausdrückt. Dass der Holländer mit dem BBW jemals die Absicht gehabt hätte, einer bestimmten Art der Musik eine malerische Form zu geben, oder dass die Musik eine hauptsächliche Inspirationsquelle seiner Kompositionen gewesen wäre, glaube ich jedoch nicht. Was Foxtrott oder Boogie-Woogie mit den Bildern von Mondrian gemein haben mögen, ist die Tatsache, dass sowohl die Musik als auch die Bilder dazu neigen, dynamische Sequenzen zu erzeugen. Die Analogie mit der Musik muss jedoch dazu dienen, die Malerei besser verstehen und genießen zu können. Nein, der BBW lässt sich nicht über seinen Titel verstehen. Die Substanz der Dinge ist und bleibt ganz im visuell Gegebenen. Mondrian: "Ein wahrer Kritiker kann – einfach durch Schöpfung aus der Tiefe seiner Menschlichkeit und Reinheit der Beobachtung -  über die neuen Kunstformen schreiben, auch ohne Kenntnis der Arbeitstechnik...Aber ein wahrer Kritiker ist ziemlich selten!"

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Betrachten wir schließlich den Victory Boogie-Woogie (VBW), ein Bild, an dem Mondrian gleichzeitig mit dem Broadway gearbeitet hat und das nach verschiedenen Wiederaufnahmen unvollendet bleiben sollte.


 

Victory Boogie Woogie, 1942-44 (Unfinished), Oil and Paper on Canvas, Sides: cm. 127 x 127 - Diagonal: cm. 178,4

 

Es sollte noch einmal erwähnt werden (für die Liebhaber von Daten), dass Mondrian die VBW vor der BBW begonnen zu haben scheint. Wie in anderen Perioden seiner Entwicklung stimmen jedoch die Daten, an denen die einzelnen Leinwände begonnen und vollendet wurden, nicht mit den tatsächlich erreichten Fortschritten überein, die aufzuzeigen und zu erklären unser heutiges Anliegen ist. Ich betrachte BBW als unmittelbar nach New York City entstanden und VBW als Fortsetzung von BBW. Meine Gründe dafür werde ich weiter unten darlegen.

Eine Photographie von 1942 zeigt den Künstler beim Entwurf des VBW, wie er gleichförmige und kontinuierliche Geraden zieht, die er dann vermutlich in eine Vielfalt von Flächen aufgeteilt hat. An einem bestimmten Zeitpunkt hat der Künstler geglaubt, das Bild abgeschlossen zu haben; unzufrieden mit dem Ergebnis, hat er jedoch das Bild wieder aufgenommen und einige Veränderungen hinzugefügt, die er jedoch durch den Tod nicht mehr in eine endgültige Form bringen konnte. So ist das Bild mit den provisorischen, während der Überarbeitung hinzugefügten Farbstreifen geblieben; und dies ist nach meinem Gefühl kein Zufall. Ich glaube, dass der VBW unvollständig bleiben musste; die Gründe dafür werde ich nach der Bildanalyse liefern.

Die Leinwand hat dieselbe Größe wie die des BBW, nur dass sie diesmal in der Form einer Raute benutzt wird.

Was die Komposition auf den ersten Blick charakterisiert, ist eine weitere Zunahme an Mannigfaltigkeit. Ein anderer wichtiger Unterschied zum BBW besteht in der fast vollständigen Abwesenheit von Kontinuität der Geraden, die im VBW auf sieben horizontale und zwei vertikale geradlinige Sequenzen reduziert sind.

Im BBW treten die Geraden kontinuierlich auf, da der Raum zwischen den kleinen Quadraten vorwiegend gelb ist. Die geradlinigen Sequenzen des VBW sind jedoch in einem engen Rhythmus von kleinen, verschiedenfarbigen Quadraten gestrickt; der Rhythmus ist so eng gedrängt, dass er das Gefühl von linearer Kontinuität auf das absolute Minimum reduziert. Im VBW sind die kleinen Flächen in geradlinigen Sequenzen angeordnet, deren Kontinuität mit dem Wechsel der Farbe, Größe und Position der Flächen verschwindet.

Werden im BBW die Flächen aus den Geraden gebildet, zu denen sie wieder zurückkehren, scheinen im VBW Geraden und Flächen zu ein und derselben Sache zu werden. Gleichwohl ist der Raum sehr dynamisch (nicht zuletzt aufgrund des Rautenformats), doch handelt es sich um einen Dynamismus, der sich aus einer virtuell unendlichen Anzahl von Flächen erzeugt, die untereinander in Wechselwirkung stehen. Während die endliche Dimension der Flächen nun zu überwiegen scheint, tendiert ihre riesige Anzahl und Vielfalt dazu, einen unendlichen Raum zu evozieren. Der unendliche Raum der Geraden wird nun durch den endlichen Raum der Flächen ausgedrückt.

Alles variiert in diesem Bild, wie schon im BBW, nur dass wir keinen Prozess mehr erkennen, der zu einer einheitlichen Synthese führt; hier überwiegt die Mannigfaltigkeit.

 

VBW

VBW  Diagram A

Der VBW zeigt eine endlose Sequenz möglicher Synthese aus Gelb, Rot und Blau, die sich in ständig neuer Form ausdrücken (Diagramm A). Und ebendies ist genau die Botschaft des BBW: die einheitliche Synthese öffnet sich wieder der Vielfalt. Im VBW stoßen wir auf viele partielle Einheiten (auch weiße), aber keine, die für die ganze Komposition steht. Alle Flächen sind in gegenseitiger Bewegung. Sie sind alle relativ, und keine setzt sich als eine Synthese aller anderen durch. Man denke an die multiethnische Gesellschaft New Yorks, wo alle Kulturen und Religionen unvermeidlich relativiert werden.
Diese Differenz zwischen BBW und VBW erinnert an den Übergang, der sich 48 Jahre zuvor zwischen Pier and Ocean 5 und Composition N. 10 vollzogen hatte.

 

VBW

VBW  Diagram B

Wir erwähnten die einheitliche Synthese in Weiß. Im mittleren oberen Bereich lässt sich eine tendenziell quadratische weiße Proportion beobachten (Diagramm B Fläche A). Auf der linken Seite sehen wir eine weiße Fläche (B) - die Fläche hat dieselben Proportionen der einheitlichen Synthese des BBW - , innerhalb derer zwei kleine Farbtupfer (gelb und Rot) aufkommen, die dann lineare Sequenzen innerhalb einer dritten weißen Fläche (C) entwickeln, die in ihren Proportionen denen des Quadrats (A) ähnelt. Die in A zu beobachtende Synthese ist zugleich vielfältig (C). Alle Farben (C) entspringen dem Weiß (A); zunächst die zwei kleinen gelben und roten Tupfer (B), dann die gehaltvolleren Sequenzen des Gelb, Rot und Blau (C).

 

VBW

VBW  Diagram C

Ein rascher Blick auf die Komposition im Ganzen lässt uns eine Gruppe gelber Flächen erkennen, die etwas Beständigeres zu evozieren scheinen (Diagramm 73 c). Bei näherer Betrachtung merken wir, dass die acht gelben Flächen ähnliche Farbmengen, jedoch variierende Proportionen oder gleiche Proportionen, jedoch variierende Positionen und Beziehungen mit den umliegenden Teilen aufweisen. So stehen wir entweder verschiedenen Entitäten gegenüber, die alle auf ein und dasselbe verweisen, oder umgekehrt betrachten wir das Werden ‚ein und derselben Entität’, die immer wieder neu erscheint. Das Eine und das Vielfältige. Wie schon in den Bildern von 1930 gibt es auch hier nichts Verschiedeneres als Dinge, die fast als gleiche erscheinen.

Mit dieser breiteren Variation des Gelb gibt uns der Maler zu verstehen, dass die Vielfalt, der er evozieren will, die realen Möglichkeiten eines Bildes weit übersteigt. Durch die breitere Variation des Gelb angeregt, stellen wir uns alle anderen möglichen Formen, Größen und Proportionen auch des Weiß, Grau, Rot und Blau in allen möglichen Positionen und gegenseitigen Beziehungen vor: ein wahrhaft unendliche ‚Landschaft’.

 

BBW

BBW Diagram E

Etwas Ähnliches lässt sich schon im BBW beobachten. Diagramm E: So  bilden die drei gelben Flächen (12, 13, 14), die in ihrem Innenraum ein graues Viereck zeigen, eine kleine Variation derselben Entwicklungsstufe des Raumes, eine Variation "derselben" Sache, die eine stets neue Form annimmt. Die Veränderlichkeit, die der Maler ausdrücken möchte, übersteigt bei Weitem die im Bild darstellbare; die möglichen Varianten eines jeden Überganges sind in der Tat unendlich und lassen sich in keinster Weise auf das einschränken, was das Bild darstellen kann.

Wie oben schon bemerkt, ist der VBW durch das fast vollständige Verschwinden von Geraden charakterisiert – ein entscheidender Bestandteil des neoplastischen Raumes bis zum BBW. Im VBW werden Geraden und Flächen zu ein und demselben, und die früher durch die Kontinuität der Gerade ausgedrückte Vielfalt und Totalität erscheint nun ganz und gar innerhalb des Bildes konzentriert. Dies hat eine genaue Bedeutung, die einer Reflexion bedarf.

 

1

2

3

4

Die neoplastischen Geraden entstehen in dem Moment, in dem sich das Oval der kubistischen Periode (1) über den endlichen Raum des Bildes hinaus erstreckt (2), und die Flächen sich verbinden, um lineare Segmente zu erzeugen (3), die dann zu kontinuierlichen Geraden werden (4). Die Totalität des Raumes, die das Oval noch innerhalb des Bildes ausgedrückt hatte (1), öffnet sich und wird zur Totalität, die sich durch ununterbrochen verlaufende Geraden ausdrückt (4). Die Idee einer metaphysisch aufgefassten Totalität (Oval) wird durch eine als real angenommene Totalität des Raumes, zu dem das Bild gehört und auf den die Geraden verweisen, abgelöst. 4 suggeriert einerseits die grenzenlose und farbenfrohe physische Ausdehnung der Realität (die auch durch die dynamische Kontinuität der Linien ausgedrückt wird) und tendiert andererseits dazu, sich im Inneren des Bildes in einer idealen Synthese zu konzentrieren, die durch ein weißes zentrales Rechteck ausgedrückt wird. Die Komposition evoziert die Vielfältigkeit der äußeren Welt und die Synthesen, die der menschliche Geist immer zu erreichen versucht, während er sich mit dieser endlosen Vielfalt auseinandersetzt.

 

5

6

7

8

Ab 1919 reduziert sich der mannigfaltige Aspekt des Raumes immer mehr (5, 6, 7, 8). In den frühen 20er Jahren werden die neoplastischen Kompositionen synthetischer, weil der Künstler in den Geraden eine Verbindung zwischen dem endlichen Raum des Bildes und dem objektiven Raum der Welt sieht. Die Geraden üben die wichtige Funktion einer Verbindung zwischen dem begrenzten Raum der Bilddarstellung mit dem unendlichen Raum der Realität aus.
In den 20er Jahren konzentriert sich Mondrian auf die einheitliche Synthese (ein Schwarz/Weiss Rechteck - 4 - was später eine quadratische Proportion wird - 6), die Farbe annimmt (7), sich öffnet, sich vervielfacht (8). Für den Holländer muss sich der endliche Raum des Bildes der Verschiedenheit der Welt öffnen.

 

9

10

11

12

Vor allem in den Rauten erstreckt sich die einheitliche Synthese über den Bildrand hinaus (9), wie um mit dem unendlichen Raum der Geraden fast zusammenzufallen (10 und 12). In 10 spielen nur zwei schwarze Linien auf ein quadratisches Feld an, das sich kaum erahnen lässt, ein Quadrat, das kaum erzeugt ist, als es zu einem unendlichen Raum wird. Die oberen und rechten Ecken der Raute akzentuieren die dynamische Ausdehnung des zentralen Feldes. Der Raum des Quadrats wird nicht mehr von den Linien begrenzt, sondern erstreckt sich mit ihnen weit über die Leinwand hinaus. Der endliche Raum scheint fast mit dem unendlichen Raum zusammenzufallen. Die subjektive Einheit (das Quadrat) dehnt sich so aus, dass sie im Idealfall die ganze Vielfalt des objektiven Raums umfasst, den die Leinwand niemals enthalten kann (das Oval).

 

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14

15

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Mit der allmählichen Wiedereröffnung der Kompositionen ab 1934 zur Komplexität hin (13) und dem Hervorgehen der Farbe (14) aus den Geraden - Farbe, die dann zu einer Vielfalt von kleinen Quadraten wird (15), kehrt die nur virtuell durch die schwarzen Geraden verkörperte Totalität in greifbarer und konkreter Form in das Bild zurück (16). Es ist, als wollten sich die gleichförmigen schwarzen Geraden zusammenziehen, um die ganze, bislang außerhalb des Bildes liegende Mannigfaltigkeit wieder hereinzuholen. 

Im VBW erscheinen die Geraden als Sequenzen kleiner Quadrate oder Flächen, die innerhalb des Bildes beginnen, sich entwickeln und enden; die Geraden erstrecken sich nicht mehr über den Bildrand hinaus, da sich nun die ‚ganze’ Mannigfaltigkeit der Welt innerhalb des Bildes selbst manifestiert. Die subjektive Darstellung fällt tendenziell mit der objektiven Realität der Welt zusammen.

An die Stelle eines zuvor als nicht-sichtbaren und unendlich angenommenen Raumes (Kontinuität der schwarzen Geraden) tritt ein vielfältiger, ganz und gar im Bild sichtbarer Raum, der in weitmöglichster Quantität und Variation aufgefasst wird – eine Varietät, die sich in Checkerboard with Light Colors (5) zum letzten Mal gezeigt hatte, eine Vielfalt, die der Maler zwischen 1920 und 1933 (A von 52 bis 64) mit den Geraden aus dem Bild herausgedrängt hatte, um sich auf eine Einheit zu konzentrieren, die zugleich das Eine und das Vielfältige ausdrücken sollte (12).

Von diesem Gesichtspunkt aus könnten die neoplastischen Geraden als eine Art "Merkzettel" erscheinen, der über 20 Jahre hinweg dazu diente, eine ideale Verbindung zwischen dem Darstellungsraum der Kunst und dem Realitätsraum (das Oval) aufrecht zu erhalten; mit der Rückkehr des Realitätsraumes (Vielfalt der Flächen) lösen sich die Geraden auf.
Die Geraden im VBW geben der Komposition die ganze Vielfalt der Welt zurück, was bedeutet, dass in den letzten beiden Boogies die Totalität des Raumes (das Oval) ins Bild zurückkehrt.

 

Die ganze europäische neoplastische Phase war eine langsame und allmähliche Öffnung des Einen zur Vielfalt. Das Eine öffnet sich bis zu dem Punkt, an dem es mit dem Vielfältigen zusammenfällt (VBW). Ist es in Lozenge with Four Yellow Lines das Eine, das auf eine virtuelle Vielfalt anspielt, so ist es in VBW das Vielfältige, das auf eine Reihe möglicher Einheiten anspielt.

Das war es vielleicht, was Mondrian fühlte, als er, ohne es deutlich ausdrücken zu können, sagte, dass es im BBW noch zuviel Altes gäbe. Obwohl der BBW einen hohen Grad an Vielfalt ausdrückt, sah er wahrscheinlich in der Tatsache, dass im BBW ein Teil der Realität noch in virtueller Art durch die Kontinuität der Geraden evoziert werden musste, etwas Altes. In einer Besprechung des Bildes soll der Künstler auch seine Unzufriedenheit mit der übertriebenen Präsenz des Gelb geäußert haben und das bedeutet das Gleiche: im BBW mussten ihm die Gerade als noch zu präsent erscheinen. In der Zeichnung sind die Linien das hauptsächliche Ausdrucksmittel, während es in der Malerei die Farbflächen sind. Im BBW werden die Geraden zu Flächen; im VBW ist alles Fläche.

Auch mit dem VBW war der Künstler nicht zufrieden, was ich auch verstehen kann. Es gibt Partien, die nicht gut gelungen sind; heute ist es unmöglich, jenes Stadium der Komposition zu bestimmen, das der Künstler einmal als Vollendung angenommen hatte. Der mit der linken Spitze der Raute zusammenfallende Raumbereich ist schwach, weil der Rhythmus aus dem mittleren Abschnitt von zwei kleinen schwarzen Fläche abrupt unterbrochen wird. Auch auf der rechten Seite, an der sich eine starke Konzentration kleiner Flächen beobachten lässt, gibt es etwas Unstimmiges. Dies gilt auch für den Raumbereich an der oberen Rautenspitze, der übertrieben synthetisch erscheint. Selbstverständlich könnte man jahrelang an solchen Kompositionen arbeiten, um ein gerade zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen.
Was mich betrifft, habe ich vor einigen Tagen eine vor drei Jahren begonnene Komposition beendet, wobei ich noch nicht sicher bin, ob alles so funktioniert, wie es soll.

Wir werden auf den VBW und das ganze Werk im nächsten Kapitel noch einmal zurückkommen, wobei wir unsere Gründe dafür erklären werden, dass dieses Bild in jedem Fall unvollendet bleiben musste.

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