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1899 - 1944 oZUSAMMENFASSUNG I

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Gehen wir das ganze Werk Piet Mondrians noch einmal durch, um die bis jetzt analysierten Schaffensperioden zusammenfassend zu betrachten.

In den Anfängen malt Mondrian die Realität so, wie sie uns erscheint, in ihrer ganzen Unmittelbarkeit und Besonderheit. Angesichts der Weite und Varietät der Natur stellt er sich sehr bald jene Frage, die sich ein jeder Mensch stellt: Was ist dieser unendliche Raum von verschiedenen Dingen? Was sind wir selbst angesichts dieses Ganzen? Mondrian ist ein Maler und seine Antworten sind über das Auge vermittelt: durch die Aufdeckung von Korrespondenzen zwischen bestimmten äußeren Formen und Spuren eines inneren Bildes.

Zwischen 1893 und 1905 malt Mondrian etwa zweihundertundachtzig Landschaften. Der Blick lässt sich auf der Oberfläche der Dinge nieder, die in ihrem ständigen Aspektwechsel die Erscheinungsweise der Welt vervielfachen; eine unendliche Realität, die gleichwohl als unauflösliche Einheit wahrgenommen wird.

 

1 - Wood with Beech Trees, c. 1899

2 - Apples, Ginger Pot and Plate on a Ledge, 1901

3 - Stammer Mill with Streaked Sky, 1906


In seiner Auseinandersetzung mit einer natürlichen Landschaft (1) hebt der Künstler einerseits eine Anzahl von Stämmen hervor und versucht sie andererseits in einer nach oben laufenden Konvergenz mit der Bodenlinie, die die Erscheinungsvielfalt verdichtet und vereint, auszudrücken.

Auch im Raum eines Stilllebens (2), der gewiss nicht so ausgedehnt und vielfältig ist wie der einer Landschaft, sieht der Maler eine Beziehung zwischen Vervielfältigung (die Varietät der unvollständigen Kreise, die sich mit den Äpfeln ausdrücken) und Synthese (der vollständige Kreis des Tellers); auch hier zeigt sich in metaphorischer Weise das Thema des Mannigfaltigen und des Einen, des Natürlichen und des Menschlichen.

In 3 sehen wir einen horizontalen Ausschnitt (den Himmel), der einen grenzenlosen Raum suggeriert, der der in sich geschlossenen vertikalen Form einer Windmühle gegenübergestellt wird. Die beiden Segel der Windmühle verkörpern und reproduzieren den Kontrast zwischen der weißen Himmelsfläche und der Windmühle selbst, wobei die Horizontale eine Konzentration des Ersteren darstellt und die Vertikale eine Konzentration der aufrechten Form des Gebäudes und seiner Reflexion im Wasser. Die Komposition manifestiert das Bedürfnis, einen sich horizontal ausdehnenden Raum auszudrücken, der der grenzenlosen Ausdehnung der natürlichen Landschaft folgt, und gleichzeitig ein Streben desselben Raumes nach Konzentration gemäß den Bedürfnissen seiner eigenen inneren Welt zu evozieren.

In seinem wechselnden Verhältnis zur Weite und Schönheit der Natur ist der Maler auf der Suche nach etwas Wesentlicherem und Dauerhafterem.

 

3 - Stammer Mill with Streaked Sky, 1906

4 - Mill at Domburg, 1908-09

5 - Evevning Sky with Luminous Cloud Streaks, 1907

     

Die Dialektik zwischen dem Mannigfaltigkeitsaspekt der Welt (einem Raum, der sich ausdehnt) und der von Innen kommenden Forderung nach Synthese und Einheit (eine Konzentrationsbewegung) führt zwischen 1908 und 1910 zum Raum der Dünen, der Architekturen und des Baumes.

Der Raum gründet sich nun auf einer Beziehung zwischen Horizontaler und Vertikaler (Baum), die jeweils zu plastischen Symbolen der unbegrenzten natürlichen Ausdehnung (Dünen) und einer Bewegung kraft des Bewusstseins zur synthetisierenden Konzentration (Architekturen).

 

6 - Lighthouse at Westkapelle in Orange, 1909

7 - Seascape, 1909

8 - Study of Trees, 1912

 

Zwischen 1911 und 1913 verwandelt sich der naturalistische in einen kubistischen Baum; innerhalb von drei Jahren entsteht ein abstrakter Raum.

 

8 - Study of Trees, 1912,

9 - Composition 7, 1913

10 - Composition II, 1913

     

Die Grundbedeutung des Abstraktionsprozesses, der durch die kubistische Entwicklung des Baumes stattfindet, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Die zwei Richtungen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Dünen (7) und Gebäuden (6) oder Stamm und Ästen ergeben (8), haben sich durchdrungen (9) und bringen eine Menge kleiner Zeichen hervor, die sämtlich wie quasi orthogonale, lineare Striche erscheinen (10). Einige sind etwas länger und wirken mehr im Sinne räumlicher Kontinuität. Sie fallen mit den mittleren Achsen des Bildes zusammen, vor allem mit der horizontalen. Man hat den Eindruck, die Spur zweier senkrecht aufeinander stehenden Mittelachsen, d.h. der Grundstruktur des natürlichen Baumes, zu sehen.

10: In einer ständigen Abwechslung jeweiliger Grundrichtungen kreuzen sich die linearen Striche, verbinden sich untereinander und trennen sich wieder.
Jedes Zeichen ist einzigartig durch die jeweils unterschiedliche Art der Beziehung, die zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen hergestellt wird. Jedes Zeichen erscheint anders, so wie die Tausenden von Entitäten, die den realen Raum der Welt bevölkern, voneinander verschieden sind. Jedes Zeichen unterscheidet sich von den anderen, aber sie teilen alle dieselbe intime Natur (die senkrechte Beziehung), so wie jeder Mensch und jeder Baum einzigartig und nicht wiederholbar ist, aber alle einige grundlegende Eigenschaften ausdrücken, die es ermöglichen, ein unsichtbares Gesamtdesign zu erkennen. Die "Landschaft", auf die sich die abstrakte Vision konzentriert, übersieht den besonderen Aspekt jedes einzelnen Dings, um sich auf das zu konzentrieren, was die verschiedenen Dinge gemeinsam haben. Die Aufgabe, die flüchtige Erscheinung der Dinge getreu wiederzugeben, hat inzwischen die Fotografie übernommen.

 

10 - Composition II, 1913

 

Jedes Zeichen ist anders. Eines dieser Zeichen erscheint in der Mitte innerhalb einer rechteckigen Fläche. Im Gegensatz zu der Situation, die bei den anderen Zeichen beobachtet wurde, erreichen die entgegengesetzten Richtungen in diesem zentralen Rechteck ein stabileres Gleichgewicht. Das Rechteck ist in seinen Proportionen ähnlich wie die Leinwand. Wie bereits erwähnt, ist es in diesem Gemälde noch möglich, eine schwache Spur der beiden Mittelachsen zu erahnen, die sich durch die gesamte Komposition ziehen. Es wird also eine Beziehung zwischen der Leinwand und dem in der Mitte platzierten Rechteck mit analogen Proportionen hergestellt. Das Rechteck scheint die beiden Mittelachsen in sich zu konzentrieren und so eine Synthese der Gesamtkomposition zum Ausdruck zu bringen. Das zentrale Rechteck erscheint als eine Art Modell, in dem ein perfektes Gleichgewicht erreicht wird, während alle anderen Zeichen Situationen suggerieren, die sich dieser idealen Situation in unterschiedlichem Maße annähern und damit in abstrakter Form die unendliche Vielfalt der realen Welt evozieren.

Indem der Künstler die sich ständig verändernde Erscheinung der Welt auf eine Vielzahl orthogonaler Zeichen reduziert, führt er zweifellos eine willkürliche Operation in Bezug auf alles durch, was wir in der unmittelbarsten Realität sehen. Dies ermöglicht ihm jedoch, die größtmögliche Vielfalt auf der Leinwand auszudrücken und gleichzeitig etwas Konstanteres (die senkrechte Beziehung) beizubehalten.

In der naturalistischen Darstellung eines Baumes ist der Beobachtungspunkt fixiert und auf die äußere Form eines einzelnen Objekts beschränkt; in der abstrakten Komposition ist der Beobachtungspunkt beweglich und betrachtet eine Realität, der es gelingt, trotz ihrer ständigen Veränderung in der Erscheinung etwas Konstantes zu evozieren. Während der Raum in tausend verschiedenen Formen vervielfältigt wird, die den mannigfaltigen Aspekt der Welt andeuten, liegt der dynamischen und vielgestaltigen Erscheinung der physischen Realität nun ein gemeinsamer Nenner zugrunde, der den menschlichen Geist befriedigt. Die größte Vielfalt durch Variationen ein und desselben Dings auszudrücken (die senkrechte Beziehung) bedeutet in der Tat, das Eine im Vielen zu finden. Mondrians kubistischer Raum schlägt somit eine Brücke zwischen dem vielfältigen Universum und dem vereinheitlichenden Bewusstsein; zwischen dem Natürlichen und dem Geistigen.

Der Übergang von der naturalistischen oder figurativen Malerei zur Abstraktion löste Verwirrung aus, und vielen fällt es auch heute noch schwer, den wirklichen Sinn und die Bedeutung eines solch radikalen Wandels zu begreifen. Es ist sehr schwierig, sie erkennen zu lassen, dass das, was in der Malerei zählt, die physische Konsistenz der gemalten Oberfläche, der Farben und der gegenseitigen Beziehungen ist, die durch den Rhythmus der Gesamtkomposition entstehen. Das kann man nur durch die Betrachtung der Originalwerke vollständig erkennen. Ob es sich um ein Bild handelt, das nach der klar erkennbaren Form eines Baumes entsteht, oder um eine abstrakte Komposition, was den Unterschied zwischen guter und schlechter Malerei, zwischen irgendeinem Bild und einem Kunstwerk ausmacht, ist die Qualität, die Intensität und die gegenseitige Anordnung der Farben und Formen; kurz gesagt, die Qualität und die Beziehung der Teile zum Ganzen.

Musik ist eine Form der abstrakten Kunst, an die wir uns schon lange gewöhnt haben. Aus diesem Grund sind wir, wenn wir ein Musikstück hören, nicht sofort darauf bedacht, das Werk zu verstehen und seine Bedeutung erklärt zu bekommen, wie es manche tun, wenn sie mit einem abstrakten Gemälde konfrontiert werden. Beim wiederholten Anhören eines Musikstücks stimmen wir uns auf das Werk ein, ob wir es mögen oder nicht. Das Verstehen braucht Zeit. Das Gleiche sollte man mit der Malerei tun.


2 - Apples, Ginger Pot and Plate on a Ledge, 1901

3 - Stammer Mill with Streaked Sky, 1906-07

10 - Composition II, 1913

 

In der Malerei Mondrians änderte sich zwischen 1901 und 1913 alles, oder besser gesagt, es gab eine Veränderung der plastischen Mittel, die dazu dienten, einer Vision der Welt, die bereits implizit in einigen Werken der naturalistischen Phase zu erahnen ist, eine klare Form zu geben:

In 2 steht, wie gesehen, ein perfekter Kreis (der Boden des Tellers) im Zentrum über einer Vielzahl von unvollkommenen Kreisen (den Äpfeln). In 10 erscheint ein zentrales Rechteck als eine Art Modell, in dem ein perfektes Gleichgewicht erreicht wird, während alle anderen Zeichen Situationen andeuten, die sich dieser idealen Situation in unterschiedlichem Maße nähern.
Mit einem Abstand von zwölf Jahren dazwischen und völlig unterschiedlich in der Form, sagen die beiden Bilder dasselbe: Die physische Realität vervielfacht ihre Erscheinungen (die Äpfel 1901 und die verschiedenen orthogonalen Zeichen 1913), während das Bewusstsein danach strebt, alles auf ein ideales Modell größerer Synthese zurückzuführen (der perfekte Kreis der Platte 1901 und das zentrale Rechteck mit dem bestmöglichen Gleichgewicht der Gegensätze 1913). Der Ausdruck all dessen in der naturalistischen oder figurativen Malerei wird durch die kontingente Erscheinung einer bestimmten Vase, dieses bestimmten Tellers und dieser Äpfel verschleiert. Gerade durch die Abstraktion von der besonderen Erscheinung dieser wenigen Gegenstände hält 10 eine viel größere Vielfalt an Formen und Situationen bereit. Das abstrakte Bild verweilt nicht mehr im Detail, sondern zeigt ein idealerweise breiteres Spektrum der Wirklichkeit.
Die "wenigen Gegenstände" des realistischen oder figurativen Gemäldes können, wie erwähnt, heute viel besser durch die Fotografie behandelt werden.

 

Ein weiterer interessanter Vergleich kann zwischen 3 und 10 gezogen werden. Beide Gemälde präsentieren einen Raum, der im zentralen Bereich der Komposition eine Synthese seiner selbst erzeugt.

Dies zeigt, wie die Abstraktion die Vision verdeutlicht, mit der sich Mondrian seit Beginn seiner Tätigkeit beschäftigt hat: Einen Raum auszudrücken, der gleichzeitig Variation und Beständigkeit, Komplexität und Einheit, unendliche und gemessene Dimension, die äußere und innere Realität in ihrer kontinuierlichen Wechselwirkung zeigt. Leider gibt es immer noch "Experten", die Mondrians figurative Periode von seinen abstrakten Werken trennen.

10 stellt einen Fortschritt dar, wenn man es mit den ersten kubistischen Leinwänden vergleicht. Der Fortschritt, den 10 bringt, besteht in einer Synthese (das Rechteck in der Mitte), die aus dem Inneren der Komposition entsteht. Mondrian hatte schon seit der naturalistischen Phase eine innere kompositorische Einheit im Sinn.

10 stellt einen Fortschritt dar, dem jedoch die leuchtenden und kontrastreichen Farben (Gelb, Magenta, Blau...) fehlen, die in der ersten kubistischen Phase den tonalen Variationen von Ocker, Braun und Grau weichen mussten. Mit diesem Ziel vor Augen arbeitet der Künstler an neuen Kompositionen.

 

 

Im Sommer 1914 kehrte Mondrian in die Niederlande zurück und wurde durch den Krieg, der während seines Aufenthalts ausbrach, an der Rückkehr nach Paris gehindert. Beraubt von den in Paris zurückgelassenen Pinseln, Farben und Leinwänden, begann Mondrian eine Serie von Zeichnungen, deren Sujet ein vom Strand ins Meer ragender Pier war.

 

8 - Study of Trees, 1912,

10 - Composition II, 1913

11 - Pier and Ocean 5, 1915

     

Die Synthese, die wir in Pier and Ocean 5 sehen, ist nun eine dynamische, ausgewogene Konzentration von Gegensätzen und nicht mehr die statische Einheit, die durch den Stamm eines Baumes oder die eher gedrängte Synthese von Horizontale und Vertikale in 10 erreicht wird.

Die Einheit, die Mondrian auszudrücken versuchte, ist eine temporäre Synthese, die momentan vom Subjekt in seiner sich verändernden Beziehung zur Welt erzeugt wird, nicht etwas, das ein für alle Mal erreicht werden soll. Die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen der vielfältigen Erscheinung der Natur und der vom Bewusstsein hervorgerufenen Synthese bedeutet nicht, Fixpunkte und unveränderliche Wahrheiten zu erlangen. Das Quadrat von Pier and Ocean 5 ist keine potentiell statische und allumfassende Einheit wie das Oval, sondern eine dynamische Einheit, die untrennbar mit dem vielfältigen Raum verbunden ist, in dem sie geboren wird und zu dem sie einen Moment später zurückkehrt.

Jedes einzelne Ding kann als ein- oder mehrteilig betrachtet werden, je nach der jeweils hergestellten Positionsbeziehung zum betrachteten Objekt. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Ein Baum sieht aus großer Entfernung wie ein kleiner grüner Fleck aus, wird dann aber größer und offenbart beim Näherkommen eine zunehmende Anzahl von Teilen, bevor er schließlich bei der Betrachtung seiner mikroskopischen Struktur einen enormen Grad an Komplexität aufweist. Aus diesem Blickwinkel wird jedes einzelne Blatt zu einem kleinen Universum. Der anfängliche grüne Fleck (den wir als einen wahrgenommen haben) ist sehr komplex geworden (vielfach).
Die anfänglich endliche Realität (der grüne Fleck) erscheint nun unendlich. Wenn der Prozess umgekehrt wird, verliert der Baum seine Komplexität und wird wieder zu einem einfachen grünen Fleck. Je nach der jeweils hergestellten Positionsbeziehung zum betrachteten Objekt wird das Einzelne zum Vielfachen und das Vielfache verdichtet sich wieder zu einer Einheit. Was ist die "wahre" Natur und Realität eines Baumes? Macht es noch Sinn, einen Baum von einem einzigen Standpunkt aus zu malen (8) und zu behaupten, dies sei die Wirklichkeit?

Jede einzelne Landschaft und alle Landschaften der Welt bilden eine unendliche Vielfalt, die als eine Einheit betrachtet werden kann, wenn wir unseren Planeten als eine zusammenhängende Ganzheit denken. Die unendliche Vielfalt der physischen Realität, die abstrakt durch das ständige Ungleichgewicht zwischen Horizontalen und Vertikalen ausgedrückt wird (11), kann unter der vereinigenden Wirkung des Geistes eine vorübergehende Synthese finden (das ausgewogene Verhältnis zwischen den Gegensätzen im Inneren eines Quadrats), die sich dann notwendigerweise immer wieder zu den unendlichen Aspekten der physischen Realität öffnen muss (das obere Quadrat öffnet sich zu einem horizontalen Übergewicht, das heißt, es ist ein Symbol für den natürlichen, vielfältigen Raum). Das ist es, was die Wissenschaft ständig tut. Das ist es, was jeder Mensch tut, wenn er aufgrund der Erfahrung seine Vorstellungen von der Realität ändert. Der mannigfaltige und fragmentarische äußere Raum wird idealerweise im inneren Raum vereinigt und dann öffnet sich der innere Raum zur physischen Realität. In dieser Hinsicht bietet die Abstraktion eine dynamischere und flexiblere Betrachtungsweise der Realität.

 

Pier and Ocean 5, 1915

 

Die Untersuchung von Pier and Ocean 5 zeigt, dass andere Bereiche der Komposition potenzielle Quadrate andeuten, die jedoch nicht das Gleichgewicht desjenigen im Zentrum erreichen. Anders als das zentrale Quadrat scheinen sie nicht in der Lage zu sein, den dynamischen äußeren Raum zu halten und in ein konstanteres und dauerhaftes inneres Gleichgewicht zu verwandeln. Die unvollständigen Versuche, die äußere Realität zu verinnerlichen, evozieren die Momente im Leben, in denen uns etwas entgleitet und wir die Begründung des Eigenwerdens nicht nachvollziehen können. Das zentrale Quadrat drückt stattdessen einen jener seltenen Momente aus, in denen wir die Tatsache verstehen (verinnerlichen), dass alles miteinander verbunden ist und dass jedes Ding von seinem Gegenteil abhängt. Und dies gilt sowohl für die Beziehung des Subjekts zum Objekt (der Außenwelt) als auch für die Beziehung des Subjekts zu sich selbst: das Finden des Gleichgewichts zwischen den widersprüchlichen Trieben in sich selbst, z.B. zwischen den unkontrollierbaren Trieben des Trieblebens (die Horizontale) und der vom Verstand oder Geist ausgeführten Handlung der Kontrolle und Führung der Triebe (die Vertikale).

Wie kann die Malerei gleichzeitig die innere und äußere Welt ausdrücken, wenn nicht in einer abstrakten Form?

Das Zeichen der Gleichwertigkeit zwischen den Gegensätzen drängt uns dazu, dem Teil von uns, der der Natur näher ist, und dem Teil, der typisch menschlich ist, ein und denselben Wert zuzuschreiben; zu verstehen, dass das eine vom anderen in einer dynamischen Vision abhängt. Die Dualität verschwindet und alles scheint in einem Zustand der Harmonie zu sein, weil es eine Harmonie im Inneren gibt. Die Betrachtung dieser Synthese, das Schwelgen im Augenblick einer ewigen Freude, die uns mit dem Ganzen zu vereinen scheint, um sich dann wieder zu öffnen, um zu sehen, wie die Dinge sich trennen und in den vielfältigen desintegrativen Rhythmen des Alltags (die Vielzahl der unausgewogenen Beziehungen zwischen Horizontalen und Vertikalen) miteinander kollidieren.

Die Dialektik zwischen einem vollständig erreichten Gleichgewicht der Gegensätze (das zentrale Quadrat in Pier and Ocean 5) und einer Vielzahl offener, instabiler Beziehungen zwischen Horizontalen und Vertikalen, die wir rund um dieses Quadrat sehen, wird Mondrians späteres Werk von 1920 bis 1942 charakterisieren.

Lassen Sie uns nun kurz sehen, wie sich dieser Prozess allmählich entwickelte.

 

11 - Pier and Ocean 5, 1915

12 - Composition, 1916

13 - Composition with Color Planes 2, 1917

 

In 11 wird ein äußerer kurvilinearer Sinn der Einheit (die ovale Form) visuell in eine Einheit übersetzt, die aus einer Beziehung zwischen Gegensätzen entsteht (die quadratische Form). Mondrian schrieb: "die kompakte gekrümmte Linie, die keine plastische Beziehung ausdrückt, wurde durch gerade Linien in ihrer gegenseitigen senkrechten Position ersetzt, die die reinste Form der Beziehung ausdrückt". Das Quadrat, das aus der Vielheit herauskommt und dann wieder zu ihr zurückkehrt, repräsentiert in geeigneterer Form die Idee der Einheit, die als dynamische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Natur betrachtet wird.

Die Unermesslichkeit der Natur, die durch die ovale Form als absoluter Raum in seiner Totalität evoziert wird, wird in eine messbare und relative Einheit (das Quadrat) übersetzt, die nun an dem vielfältigen Raum teilhat, in dem sie geboren wird und zu dem sie zurückkehrt. Die Einheit ist keine metaphysische Angelegenheit, die einmal und für immer gegeben ist. Von diesem Moment an sollte der gesamte plastische Raum von Mondrian auf dieser Idee der Einheit (dem Quadrat) als subjektivem Symbol einer angenommenen objektiven Einheit (dem Oval) beruhen.

Bei der Betrachtung der Bilder 11, 12 und 13 in einer Sequenz sehen wir, wie sich das Oval auflöst und eine weiße quadratische Feldform aus dem Inneren der Komposition auftaucht.

Der vereinheitlichende Raum des Bewusstseins gegenüber der Vielfältigkeit der Welt, den Mondrian in einem Quadrat (11) evoziert, öffnet sich zur Farbe (12) und vervielfältigt sich in Form von Quadraten und Rechtecken verschiedener Formen, Größen und Farbtöne (13), die die zuvor durch kleine schwarze Striche ausgedrückte Vielfalt erzeugen. Der variable Aspekt der physischen Welt erschien nun in Form von gelben, rosa oder blauen Rechtecken, manche größer und manche kleiner, manche horizontal und manche vertikal. Alles befand sich in einem Zustand der ständigen Veränderung. Das weiße quadratische Feld in der Mitte von 13 tauchte jedoch nicht mit der Evidenz auf, die sich der Maler gewünscht hatte, und jedes farbige Quadrat oder Rechteck schien sich frei um sich selbst zu bewegen. Wieder einmal nahm Mondrian einen Mangel an Einheitlichkeit wahr.

 

14 - Composition with Color Planes and Gray Lines 1, 1918

15 - Lozenge Composition with Colors, 1919

16 - Lozenge Composition with Colors, 1919

     

"Da ich den Mangel an Einheitlichkeit spürte, fügte ich die Rechtecke zusammen: Der Raum wurde weiß, schwarz und grau; die Form wurde rot, blau oder gelb. Das Zusammenfügen der Rechtecke war gleichbedeutend mit der Fortsetzung der Vertikalen und Horizontalen der vorangegangenen Periode über die gesamte Komposition." (Mondrian)

Der Maler fügte die Rechtecke zusammen (14), aber das machte den Mangel an Zusammenhalt nicht wett. Er gab daher die Farbe wieder auf, um sich auf die formale Gestaltung zu konzentrieren und produzierte Kompositionen, in denen die Vielfalt der Rechtecke die Ausdehnung oder Kontraktion eines konstanten Moduls widerspiegelte (15 und 16).

Die Rechtecke sind unterschiedlich, verändern sich aber nun auf der Basis eines gemeinsamen Parameters (15 und 16). Alles ändert sich, aber etwas Grundlegendes bleibt.

Während die heterogene Vielfalt der linearen Relationen mit einem Quadrat in Pier und Ocean 5 zur Synthese gelangte, haben wir es nun, da die linearen Relationen zu farbigen Flächen geworden sind, mit einer Vielfalt von Quadraten zu tun, von denen einige gelb, einige rosa und einige blau sind. Das Quadrat ist in diesen Arbeiten nicht mehr eine einheitliche Synthese der gesamten Komposition (wie in Pier and Ocean 5), sondern nur noch der Teil, der in dieser bestimmten Farbe ausgedrückt wird. Eine authentische einheitliche Synthese der Komposition müsste in diesen Leinwänden auch zwischen den verschiedenen Farben erreicht werden.16 zeigt drei Quadrate, die eine größere Einheit der verschiedenen Farben evozieren.

Vom vollständig gezeichneten Raum (11) zum vollständig gemalten Raum (12, 13, 14), der eine neue Reorganisation der formalen Struktur erfährt (15) und sich dann wieder zur Farbe hin öffnet (16).

 

16 - Lozenge Composition with Colors, 1919

17 - Checkerboard Composition with LIght Colors, 1919

18 - Composition B, 1920

Mit 16 gewinnt die formale Struktur an Ordnung und Klarheit. Diese Ordnung wird akzentuiert durch das völlig regelmäßige Schema von 17, in dem der variable Aspekt der Komposition ausschließlich durch Farbe ausgedrückt wird. Die Idee, die Farben zu größeren Einheiten zusammenzufügen (16), findet in 17 und 18 unterschiedliche Lösungen.


 

17 - Checkerboard Composition with LIght Colors, 1919

 

Bei der Betrachtung der Vielzahl der farbigen Rechtecke fällt auf, dass sich in manchen Bereichen zwei, drei, vier Rechtecke der gleichen Farbe zu größeren Einheiten zusammenfinden. Die Gesamtkomposition wird jedoch nicht so strikt vom Prozess der Aggregation und des Wachstums bestimmt, wie in 15 und 16. Dieser Prozess manifestiert sich nun sporadisch.

Nachdem das Auge eine größere Einheit identifiziert hat, sucht es spontan nach weiteren und spricht bei dieser Suche viele andere Situationen an, in denen eine oder zwei Grundeinheiten fehlen, die zur Bildung eines homogenen Rechtecks erforderlich sind, während die anderen eine andere Farbe haben. Bei der Suche nach größeren Rechtecken einer einzigen Farbe betrachten wir die praktisch unendliche Variation von Gebilden, die aus verschiedenen Kombinationen gleicher Elemente entstehen. Ist nicht auch die Natur eine unendliche Variation von Gebilden, die aus verschiedenen Kombinationen gleicher Elemente entstehen?

Beachten Sie, wie sich der Gegensatz zwischen vertikalen und horizontalen Linien in einem homogenen Farbfeld wie dem der größeren Rechtecke mit größerer Klarheit und Ausgewogenheit manifestiert. Die senkrechte Opposition erweist sich dagegen als weniger stabil, wenn sich die Farben um den Schnittpunkt zwischen horizontalen und vertikalen Linien verändern. Was im größeren Rechteck in synthetischer und einheitlicher Form erscheint, ist anderswo unausgewogen. Anders als in Pier and Ocean 5, wo die Synthese von Horizontale und Vertikale nur durch die Form ausgedrückt wird, ist es nun die Farbe, die die ausgewogensten Synthesen der gegensätzlichen Richtungen hervorhebt; einmal in Gelb, einmal in Blau und dreimal in Rot.

Zusätzlich zu den fünf größeren Rechtecken, die in den drei Grundfarben ausgedrückt sind, präsentiert das Checkerboard with Light Colors eines in Weiß, das auch schwarze Linien enthält, die ein Zeichen der Gleichwertigkeit bilden. Dies ist das einzige weiße Rechteck von größerer Größe auf der Leinwand. Seine Position ist perfekt zentral in Bezug auf die Seiten der Leinwand und leicht erhöht. Dies erinnert an das zentrale Rechteck der Composition II und an das Quadrat in Pier and Ocean 5 .
In diesem Punkt erreicht die gesamte Komposition eine Synthese und ein Gleichgewicht der gegensätzlichen Werte, nicht nur in Bezug auf die Form (horizontal und vertikal), wie wir es in Pier and Ocean 5 und in den anderen gelben, roten oder blauen, größeren Rechtecken von Checkerboard with Light Colors sehen, sondern auch in Bezug auf die Farbe (schwarz und weiß). Ich werde mich bemühen, dies zu erklären.

Der Maler unterscheidet in dieser Phase noch zwischen Farbe (Gelb, Rot und Blau) und Nichtfarbe (Weiß, Schwarz und Grau), wobei er die erste als plastisches Symbol für das Natürliche und die zweite als Symbol für das Geistige sieht. Er verwendet hier die drei Grundfarben, um Kontrast und Vielfalt auszudrücken, und Weiß, Schwarz und Grau, um eine ebenso breite Variationsbreite zu erzeugen, die jedoch homogener erscheint als die mit den Grundfarben erzeugte kontrastreiche Variation. Der Künstler scheint einen gemeinsamen Nenner in Bezug auf die Farbe zu suchen. Die Farben und "Nicht-Farben" des Checkerboard with Light Colors sind daher als ein Ganzes zu sehen, das einerseits in einer auffälligen und disharmonischen Farbvielfalt (den drei Primärfarben) erblüht, die die Vielfalt der Welt symbolisiert, und andererseits durch die homogenste Variation von Grautönen zwischen den beiden gegensätzlichen Werten Weiß und Schwarz, die im zentralen Rechteck einen einheitlichen Ausdruck erlangen, in einer Synthese wieder zusammengeführt wird. Die Vielfalt der äußeren Welt (der äußeren Natur), hervorgerufen durch Gelb, Rot und Blau, findet eine vorübergehende Synthese unter der vereinheitlichenden Wirkung der inneren Welt (der menschlichen Natur oder des Geistigen), hervorgerufen durch Grau, Schwarz und Weiß.

 

11 - Pier and Ocean 5, 1915

17 - Checkerboard with Light Colors, 1919

18 - Composition B, 1920

Dennoch ist es, wie wir bei 11 gesehen haben, die wahre Absicht des Künstlers, die Einheit (das perfekte Gleichgewicht zwischen Horizontale und Vertikale innerhalb eines Quadrats) für die Vielzahl der unausgewogenen Beziehungen zwischen den Gegensätzen zu öffnen, die überall stattfinden, das heißt, die Einheit für den vielfältigen Raum zu öffnen. Das Quadrat von 11 muss sich öffnen, denn jede Synthese, die diesen Namen verdient, muss in allen Teilen, die sie darstellen will, sichtbar Gestalt annehmen. Der Unterschied besteht darin, dass der mannigfaltige Raum nun durch Farben ausgedrückt wird (17 und 18). Mondrian hat in 17 einen Kompromiss gefunden, in dem die drei Grundfarben in einem schwarz-weißen Rechteck durch verschiedene Grautöne ideal vereinigt sind. Unmittelbar danach bemüht er sich jedoch, die einheitliche Synthese auf konkretere Weise für alle Farben zu öffnen (18).

Während die regelmäßige Anordnung von 18 asymmetrisch wird, entsteht aus Grau, Gelb, Rot und Blau eine große quadratische Form im Zentrum der Komposition (18). Das große Quadrat wird deutlich, wenn wir die Flächen betrachten, die sich sowohl in der Farbe als auch in der Größe unterscheiden und auf demselben Parameter beruhen: Wir bemerken zwei zusammenhängende gelbe Flächen mit rechteckigen Proportionen, die an Quadrate grenzen. Die gleiche Form taucht weiter unten einmal in Rot und einmal in Hellgrau auf. Rechts erweist sich eine große blaue Fläche als die Summe des zweimal vertikal wiederholten Ausgangsmoduls. Weiter unten haben wir drei Rechtecke - ein gelbes, ein schwarzes und ein dunkelgraues -, die Proportionen aufweisen, die der Hälfte des Ausgangsmoduls entsprechen. Obwohl sie sich sowohl in der Farbe als auch in der Größe unterscheiden, ist jede dieser Flächen eine vertikale oder horizontale Ausdehnung oder Kontraktion einer vorher festgelegten Maßeinheit. Die Flächen außerhalb des großen Quadrats nehmen stattdessen anomale Proportionen an, die nicht mehr mit dem Modul in Verbindung stehen. Der Raum des großen quadratischen Feldes zeigt einen gewissen Grad an Konstanz, während sich alles um ihn herum verändert. Das erinnert schon wieder an Pier and Ocean 5.

Mit einem großen, sichtbar strukturierten und eingefärbten Quadrat (18) versucht Mondrian hier eine einheitliche, für die Vielheit offene Synthese zu präsentieren, fast so, als wolle er eine gegenseitige Durchdringung zwischen der weißen Einheit von 17 und den drei Rechtecken - einem gelben, einem roten und einem blauen - in seiner unmittelbaren Umgebung bewirken.

 

11

1915

13

1917

17

1919

18

1920

Bei der Betrachtung der Sequenz können wir ein gezeichnetes Quadrat (11) visualisieren, das sich vervielfältigt und sich zu verschiedenen Farben öffnet, die sich um ein weißes zentrales quadratisches Feld sammeln (13). Das quadratische Feld wird zu einem weißen Rechteck, das eine Synthese aus Gelb, Rot und Blau andeutet (17). Das weiße Rechteck öffnet sich dann zu jenen Farben innerhalb einer großen quadratischen Form, die die Einheit auf direktere Weise ausdrücken sollen (18).
Das gezeichnete Quadrat (11) wird zu einem farbigen (18), um gleichzeitig Einheit und Vielheit auszudrücken. Einheit und Vielheit sind für Mondrian ein und dieselbe Sache, die aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Erinnern Sie sich an das Beispiel eines Baumes, der aus der Nähe und aus der Ferne betrachtet wird.

Beachten Sie, wie die Synthese immer in der Mitte der Komposition entsteht und wie dies in früheren Kompositionen immer wieder geschieht.

 

 

   

 

11 - Pier and Ocean 5, 1915

 

17 - Checkerboard with Light Colors, 1919

 

Die kleinen linearen Segmente der kubistischen Kompositionen (11) sind inzwischen zu durchgehenden Linien geworden (17) und das bringt eine wesentliche Neuerung mit sich:

Die zuvor in der metaphorisch geschlossenen Form eines Ovals (11) ausgedrückte Totalität des Raumes öffnet sich und wird über einen Zeitraum von vier Jahren in eine durch die Kontinuität der geraden Linien ausgedrückte Totalität transformiert (17). Mondrian scheint diese Linien, die er als ununterbrochen fortlaufend beschreibt, zu benutzen, um den Raum der Leinwand mit einer idealen Totalität (dem Oval) zu verbinden, die sich inzwischen über die Leinwand hinaus ausgedehnt hat und nun mit dem Raum der Realität zusammenfällt, von dem das Kunstwerk einen Teil darstellt; einen Teil, der für das Ganze zu stehen beansprucht.

Wie Maurizio Calvesi betont, ist die Leinwand "ein ideales Zentrum, in dem das räumliche Geschehen in seiner Ganzheit und Totalität nicht weniger als in seiner dynamischen Kontinuität bestimmt wird. Mondrian schrieb 1920, dass sich die geraden Linien zwar tangential schneiden und berühren, aber ununterbrochen weiterführen. Das Ergebnis strahlt in der Tat vom Bild ins Unendliche aus, aber die Leinwand erschöpft die Intuition des Ganzen in sich selbst."

Die Totalität, die zuvor mit dem Oval ausgedrückt wurde, wird zum realen Raum des Lebens, während eine Synthese (das zentrale weiße Rechteck) uns vom Inneren der Leinwand aus daran erinnert, dass die Unermesslichkeit der Natur (das Oval), die uns im täglichen Leben als eine unendliche, unergründliche Vielfalt verschiedener Dinge erscheint, tatsächlich eine unauflösliche Einheit ist. Die unendliche Ausdehnung der realen Welt wird nun durch die Kontinuität der Linien ausgedrückt, weshalb Mondrian in den folgenden Werken auf jeden Rahmen um seine Leinwände verzichten sollte. Der Rahmen unterbricht die angestrebte ideale Kontinuität zwischen dem Kunstwerk und dem realen Leben.

 

17 - Checkerboard Composition with LIght Colors, 1919

18 - Composition B, 1920

19 - Composition with Yellow, Red, Black, Blue and Gray, 1920

Die Schwarz-Weiß-Synthese (17) öffnet sich zu den Farben (18), was jedoch zu einer Dominanz des vielfältigen Aspekts führt (das große quadratische Feld ist in der Tat kaum wahrnehmbar) und zur erneuten Abwesenheit des besonderen Moments, in dem die Komposition eine offensichtlichere Einheit manifestieren soll, wie in 11 und 17 zu sehen.

19: Die Komposition ist also wieder in eine variable Menge von Maßen, Proportionen und Farben aufgeteilt, die in einem großen weißen quadratischen Feld einen Moment der Synthese erreichen. Wir können also sehen, wie 19 die Rückkehr zu einer deutlich sichtbaren einheitlichen Raumsynthese nach dem kaum identifizierbaren großen Quadrat in 18 markiert. Kurz gesagt, mit 19 kehrt der Künstler hier zu der in 17 ausgedrückten Konzeption der Einheit zurück, d.h. einer Einheit der beiden gegensätzlichen Werte, schwarze Linien, die ein weißes Feld erzeugen, aber mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Komposition im Vergleich zu 17 völlig asymmetrisch geworden ist und der Sinn für Variation nicht mehr nur durch Farbe, sondern auch durch Form ausgedrückt wird. Die Komposition entwickelt sich nun frei und unterliegt keinem vorgegebenen Modul mehr, wie wir es in 17 und teilweise in 18 sehen. Das Layout von 19 sollte zum Vorbild für fast alle Gemälde werden, die Mondrian zwischen 1921 und 1927 malte.

 

Pier and Ocean 5 - 1915

Composition with Color Planes 2 - 1917

Checkerboard with Light Colors - 1919

Composition with Yellow, Red, Black, Blue and Gray - 1920

Die vier obigen Diagramme zeigen den Übergang von der kubistischen Phase zum Neoplastizismus.

 

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19

20

       

Beobachten Sie die Abfolge: Die ganze Vielfalt von 17 wird über einen Zeitraum von fast drei Jahren allmählich reduziert, bis auf der Leinwand nur noch das übrig bleibt, was man als einen Teil von 17 interpretieren könnte, auf den sich der Maler zu konzentrieren entschlossen scheint. Dieser Teil umfasst die weiße Einheit und drei Flächen, jede in einer Primärfarbe und jede nun in Größe und Form von den anderen verschieden (19, 20). Es gibt ein chorisches Gefühl der Variation in 17 mit einer großen Anzahl von gleichen Formen, die sich nur durch die Farbe in ihrer Erscheinung unterscheiden, während die neuen Leinwände (19, 20) eine kleinere Anzahl von Teilen präsentieren, die sowohl in Form als auch in Farbe variieren, um jeden Punkt im Raum einzigartig und unwiederholbar zu machen. Einzigartig und unwiederholbar, so wie fast alles in unserem Leben ist. Die Anzahl der Teile nimmt ab, aber ihre gegenseitige Vielfalt nimmt zu. Das Gefühl der Vielfältigkeit, das sich in erster Linie quantitativ ausdrückt (17), weicht nun einem Gefühl der Vielfältigkeit, das sich durch die Unterschiede in der Qualität ausdrückt (19 und 20).

20: Beachten Sie das große weiße quadratische Feld und das kleine schwarze Quadrat in der unteren linken Ecke. Wir betrachten zwei Quadrate, die entgegengesetzte Werte in Bezug auf die Farbe darstellen. Gelb, Rot und Blau sind Zwischenwerte zwischen diesen Gegensätzen, wobei Gelb der hellste Wert ist, nahe an Weiß, und Blau der dunkelste Farbton, nahe an Schwarz.

 

21 - Comp. with Large Red Plane, Yellow, Black, Gray and Blue, 1921

22 - Composition with Yellow, Black, Blue, Red and Gray, 1922

23 - Composition with Yellow, Blue and Blue-White, 1922

     

Mit 19 und 20 kehrt der Künstler zu einem Konzept einer Äquivalenz von Gegensätzen zurück, d.h. einer Einheit, die nur durch Schwarz und Weiß ausgedrückt wird, aber dann öffnet er das quadratische Feld wieder für Variationen sowohl der Farbe als auch der Form (21), um erneut die Präsenz eines einzigen großen weißen Quadrats zu bekräftigen (22) und sich erneut für Variationen des quadratischen Moduls zu öffnen (23).

21: Rechts des großen roten Quadrats und rechts des kleineren schwarzen Quadrats darunter sehen wir ein etwas mehr horizontal entwickeltes weißes Quadratfeld, das von einem vertikalen Segment gekreuzt wird, und ein etwas mehr vertikal entwickeltes gräuliches Quadratfeld, das von einem horizontalen Segment gekreuzt wird. Auch dies ist eine Möglichkeit, ein Gefühl der Variation zu evozieren, während der Raum vergleichsweise konstant gehalten wird, wobei die gleiche Konfiguration (ein quadratisches Modul) Position, Proportionen und Farben ändert. Auf diese Weise wird eine Tendenz zur Einheit in einer Vielzahl von unterschiedlichen Einheiten evoziert.

Der Raum wechselt zwischen Kompositionen, in denen die Einheit durch ein einziges großes Quadrat ausgedrückt wird, das durch asymmetrische Farbfelder in einen Zustand des dynamischen Gleichgewichts versetzt wird (22), und Kompositionen, in denen sich das quadratische Modul in Bereiche vervielfältigt, die an Quadrate grenzen und deren Aussehen sich ständig verändert (21 und 23).

 

24 - Lozenge with Four Lines and Gray, 1926

25 - Composition 1 with Yellow and Light Gray, 1930

26 - Composition with Yellow, 1930

Diese Dialektik zwischen einem geschlossenen Quadrat und einer Vielzahl von offenen und nicht vollständig erreichten Quadratfeldern wird die gesamte europäische neoplastische Phase leiten. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass diese Dialektik von Pier and Ocean 5 ausgeht.

24: Jede Linie, die das quadratische Feld bildet, weist eine andere Dicke auf; das bedeutet, dass die quadratische Einheit einen gewissen Grad an Vielfältigkeit in sich selbst aufweist.

25 zeigt eine Vielzahl von quadratischen Feldern, die sich nach verschiedenen, alternativen Seiten öffnen und dabei in kaum wahrnehmbarem Maß, Proportionen und Farbe verändern.

26 konzentriert sich wieder auf ein einziges geschlossenes Quadrat, das sich aus der dynamischen Kontinuität zweier gegenüberliegender Linien entwickelt, die das Zentrum der Komposition kreuzen. Die drei großen Flächen, die offen bleiben, scheinen dazu bestimmt, mögliche Varianten des geschlossenen Quadrats auszudrücken. Diese Flächen erscheinen in der Tat nur dann als vertikale und horizontale Rechtecke, wenn man sie im Verhältnis zu den Seiten der Leinwand betrachtet. In Wirklichkeit wissen wir nicht, wie sich die einzelnen Flächen über die Grenzen des Bildes hinaus entwickeln. Diese Flächen drücken daher einen variablen und unbestimmten Raum in Bezug auf das definitive Quadrat aus, in dem die entgegengesetzten Werte Gleichwertigkeit erlangen.

Dies war der Beginn eines langen und mühsamen Prozesses der allmählichen Zusammenführung der subjektiven Einheit - einer bestimmten Proportion des Quadrats - und der objektiven Einheit - einer Vielfalt verschiedener Maße, Proportionen und Farben um und/oder innerhalb des Quadrats - eines notwendigerweise begrenzten Grades der Vielfältigkeit, der im Idealfall durch die Kontinuität der Linien zur unendlichen Vielfalt der realen Welt hin erweitert wird.

Die gesamte europäische neoplastische Phase (1919-39) sollte eine langsame und allmähliche Öffnung des einheitlichen, abgemessenen Raums (des Quadrats) zum vielfältigen, unvorhersehbaren Raum (den horizontalen oder vertikalen Ebenen unterschiedlicher Größe, Proportion und Farbe sowie den endlosen senkrechten Linien ) sein; ein Prozess der Durchdringung zwischen Einheit und Vielheit; ein Prozess, der seit Pier und Ocean 5 von 1915 im Gange war.

In der ausführlichen Erläuterung habe ich die meisten Werke, die Teil dieses Prozesses sind, unter vier kompositorischen Typologien mit den Namen Aufbau I, II, III und IV gruppiert.

 

Aufbau N. 1

1 - 1922

2 - 1922

 

 

3 - 1922

4 - 1922

5 - 1922

 

Aufbau N. I präsentiert eine große quadratische Form, die den größten Teil der Komposition einnimmt. Um das Quadrat herum sind Flächen unterschiedlicher Größe entwickelt, die jeweils in einer Grundfarbe gehalten sind. Die farbigen Formen sind so angeordnet, dass sie eine Asymmetrie erzeugen und das Quadrat "dezentrieren".

 

 

Aufbau N. II

1 - 1926

2 - 1927

3 - 1928

 

Aufbau N. II entsteht um 1927, als sich das große quadratische Feld von Aufbau N. 1 nach links öffnet (1), dann mit den beiden horizontalen Linien, die sich mit den vertikalen Seiten der Leinwand zu einem neuen quadratischen Feld verbinden, das auf beiden Seiten offen ist (2 und 3). Eine vertikale Linie verläuft durch dieses neue quadratische Feld. Andeutungen des unendlichen Raums (die Linien) erscheinen innerhalb des endlichen Raums (das Quadrat); das dynamische und sich ständig verändernde Element (die Linie) durchdringt das konstante Element (das Quadrat).

 

 

Aufbau N. III

1 - 1930

2 - 1931

 

3 - 1932

4 - 1932 5 - 1932

 

Die zwingende Präsenz des großen Quadrats, das im Aufbau N. I das Zentrum der Komposition einnimmt, weicht zunächst einer vertikalen Linie (Aufbau N. II) und dann zwei senkrechten Linien (Aufbau N. III), die das Zentrum der Komposition durchkreuzen. Wo früher ein begrenzter Raum war (das große Quadrat des Aufbau I), sehen wir jetzt einen Raum, der sich durch gegenüberliegende Linien ununterbrochen fortsetzt. Dadurch wird die Mitte der Leinwand dynamischer. Wie wir gesehen haben, spielte der zentrale Bereich der Leinwand in Mondrians Kompositionen immer eine entscheidende Rolle, wenn es um Einheitlichkeit ging.

 

 

Aufbau N. IV

1 - 1929

2 - 1929

3 - 1929

4 - 1930

5 - 1930

 

Wie das Aufbau N. III entwickelt sich das Layout N. IV aus der Tendenz, das große Quadrat des Aufbau N. I zu öffnen und zu dezentrieren und Platz für kleinere zusätzliche Quadrate zu schaffen. Das große Quadrat und das kleinste scheinen um den Raum zu ringen.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Schemata, die ich hier zur Erläuterung verwende (die vier Layouts), als Interpretationsmodelle zu verstehen sind, die eindeutig auf Mondrians Werk angewendet werden können, es aber keineswegs erschöpfen. Sie müssen offen und flexibel gesehen werden. Tatsächlich verläuft das Werk wie ein einziger Korpus, und wir können daher Kombinationen und Überschneidungen der verschiedenen Layouts finden, die unterschiedliche Lösungen für ein einziges Bedürfnis darstellen, nämlich die Gleichwertigkeit von Gegensätzen dynamisch zu machen. Mondrian fertigte Skizzen an und nutzte sie als Grundlage für die Kompositionen, die er anfertigen wollte. Diese Skizzen waren jedoch wie Variationen eines einzigen inneren Entwurfs, die unterschiedliche Formen annahmen, als sie ihm in die Hände fielen.

* * * * *

 

Eine weitere Variation zum Thema des Drangs des Malers nach einer dynamischen Transformation der Gleichwertigkeit von Gegensätzen - oder einer anderen Art von Layout, wenn man so will - findet sich in einigen Rautenkompositionen, die Mondrian zwischen 1925 und 1933 produzierte.


 

1 - 1925

2 - 1925

3 - 1926

4 - 1926

5 - 1930

6 - 1933

 

Die Wahl des Rautenformats verleiht der Komposition eine größere Weite. Sie ermöglicht es, Linien unterschiedlicher Länge zu verwenden. Es entstehen neue Spannungsverhältnisse zwischen den orthogonalen Ebenen und den diagonalen Seiten des Bildes. Die vier Ecken der Raute erzeugen eine zentrifugale Energie und scheinen die Ebene der Leinwand entlang ihrer beiden Mittelachsen zu erweitern. Die Raute scheint also an sich schon eine Möglichkeit zu sein, die Gleichwertigkeit von Gegensätzen, also das Quadrat, zu dynamisieren.

Im Gegensatz zu dem, was in den rechteckigen Leinwänden geschieht, neigt der Maler in den Rautenkompositionen dazu, sich ausschließlich auf die große quadratische Form zu konzentrieren. Diese präsentieren eine allmähliche Reduktion der Elemente bis zu dem Punkt, an dem ein wahrscheinliches Quadrat mit der unendlichen Ausdehnung der Linien zusammenfallen könnte (4). Unter diesem Gesichtspunkt stellen die Rautenkompositionen das Moment der größten Korrespondenz zwischen dem Einen und dem Vielen dar.

In dieser Phase ist Mondrian wie ein Komponist, der das Orchester allmählich auf ein Soloinstrument reduziert, einen fast unmerklichen Klang, der noch variiert werden kann, um das Ganze auszudrücken. Es sind die Beziehungen, die im neoplastischen Raum zählen, nicht die Dinge an sich. In einem weißen Feld, das von drei schwarzen Linien gekreuzt wird, kann die Dicke einer Linie in einem Raum, der sich zu immer größerer Synthese bewegt, auch dazu dienen, die Gewichte zu kalibrieren und die Gesamtökonomie der Komposition zu beeinflussen.

5 und 6: Bei der Betrachtung dieser Quadrate und der unterschiedlichen Dicke der Linien werden wir mit der Idee einer einheitlichen Synthese konfrontiert, die sich von einer Seite zur anderen verwandelt. Wir sehen ein Quadrat, das sich für Variationen öffnet und in sich selbst vergleichsweise vielfältig erscheint. Wir nehmen eine sich verändernde Einheit wahr, die eher zum Werden als zum Sein neigt. Sie besteht und verändert sich zugleich. Wir sind mit einer dynamischen Gleichwertigkeit von Gegensätzen konfrontiert.


 

29 - Composition C with Gray and Red, 1932

30 - Composition B with Double Line, Yellow and Gray, 1932

31 - Lozenge with Four Yellow Lines, 1933

 

30 ist das erste neoplastische Werk mit zwei sehr nahe beieinander verlaufenden horizontalen Linien anstelle der einzigen Horizontalen, die in allen früheren Kompositionen desselben Typs zu sehen ist (29). Die Dicke der beiden horizontalen Linien ist halb so groß wie die der vertikalen. Es ist fast so, als ob die beiden dünnen schwarzen Horizontalen dazu dienten, eine weiße Linie abzustecken, die dem Schwarz nicht mehr nur auf der Ebene der Form (horizontal oder vertikal), sondern auch auf der Ebene der Farbe (schwarz oder weiß) gegenübersteht. Schwarz scheint hier bereit, sich zum Weiß zu öffnen. Die kleine Fläche rechts ist grau, also ein Zwischenwert zwischen Schwarz und Weiß. Die gelbe Fläche auf der linken Seite bildet ein Gegengewicht zum Grau. Im folgenden Jahr sollte Gelb der Zwischenwert zwischen schwarzen Linien auf weißem Grund werden, den Mondrian bis dahin verwendet hatte (31).

 

31 - Lozenge with Four Yellow Lines, 1933

 

 

In 31 treffen wir auf ein Quadrat, das offen, dynamisch, asymmetrisch und intrinsisch nur durch farbige Linien definiert ist. Die Zunahme der Linienstärke kann als Vertikale gesehen werden, die eine leichte horizontale Ausdehnung aufnimmt, oder umgekehrt als die Horizontale, die als Reaktion auf einen kaum wahrnehmbaren vertikalen Druck dicker wird. Für einen Bruchteil einer Sekunde ist der Raum der Linien gleichzeitig vertikal und horizontal. Unter diesem Gesichtspunkt können die Linien hier fast als Ebenen betrachtet werden.

Wie erwähnt, ist Gelb ein Zwischenwert zwischen Schwarz und Weiß, dunkel genug, um sich von Weiß zu unterscheiden, aber gleichzeitig nicht so radikal entgegengesetzt wie Schwarz. Die gegensätzlichen Werte scheinen nun zu kommunizieren und erreichen einen einheitlichen Ausdruck sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Farbe, wobei Horizontale und Vertikale gleichzeitig für einen Augenblick in jeder Linie präsent sind und die Synthese von Schwarz und Weiß in einer Zwischenfarbe, die in diesem Fall Gelb zu sein scheint.

Wir sprechen von einem Quadrat, obwohl sich die Linien in dieser Raute von 1933, dem einzigen neoplastischen Werk, in dem dies geschieht, nie innerhalb der Leinwand treffen. Tatsächlich könnte jede horizontale Linie für sich allein in den unendlichen Raum weitergehen, ohne dass es wirklich darum ginge, mit den gegenüberliegenden Linien zu verschmelzen, um eine quadratische Proportion entstehen zu lassen. Die sichtbaren Abschnitte der Linien lassen uns eine quadratische Einheit erahnen, die aber nicht sicher gegeben ist. Wir sprechen von einer Äquivalenz von Gegensätzen, die eventuell jenseits unseres Blickfeldes entstehen könnte; eine Einheit, die unsere subjektive Vorstellung von einer vermuteten, unsichtbaren objektiven Einheit ist, die die endlosen Linien andeuten.

Der Künstler hatte für einen Moment das Gefühl, sein Ziel mit einem Quadrat erreicht zu haben, das eine Verwandlung durchmacht und dabei relativ stabil bleibt. Diese Komposition trifft den Kern des Problems: eine dynamische Äquivalenz von Gegensätzen auszudrücken; einen relativ vielfältigen Raum in einheitlicher Form zu zeigen; die Einheit, d.h. das Postulat des Bewusstseins, für das unendliche natürliche Universum und die unvorhersehbare Existenz in der Zeit zu öffnen, ohne sie jedoch aus den Augen zu verlieren. Das Eine und das Viele erscheinen uns als gegensätzliche Realitäten, aber in Wirklichkeit sind sie ein und dasselbe. Das ist wahrscheinlich das, was Mondrian meinte, als er schrieb, dass "durch unsere Realität die wahre Realität enthüllt wird".

 

 

     

1920

 

1921

 

1930

 

1932

1924-25

1925

1930

1933

 

In den rechteckigen Leinwänden, an denen der Maler zur gleichen Zeit wie an den Rauten arbeitete, bewegt sich ein stabiles weißes Quadrat aus der Mitte heraus, öffnet sich zu den Farben, vervielfältigt sich in wechselnder Größe und Proportion, erreicht aber nie einen solchen Grad an Artikulation und Synthese wie in dieser Raute mit vier gelben Linien von 1933.

In den rechteckigen Leinwänden öffnet sich die durch das Quadrat ausgedrückte Synthese in Richtung der Vielheit; in den Rauten absorbiert das Quadrat die Vielheit (unterschiedliche Dicke der Linien), während es im Wesentlichen eins bleibt.

Wie wir schon sagten, haben die Linien, die sich ununterbrochen fortsetzen, die grundlegende Funktion, den Raum der Leinwand mit dem Raum der realen Welt zu verbinden; durch die Linien bleibt der Künstler in idealer Weise in Kontakt mit der Totalität des Raumes, die zuvor durch ein Oval ausgedrückt wurde, um sich vor allem in den Rautenkompositionen auf eine Einheit zu konzentrieren, die das Ganze durch sich selbst auszudrücken versucht. Dies wird bis zur extremen Synthese von nur zwei schwarzen Linien getrieben, die danach streben, eine "unendliche quadratische Form" zu evozieren. Für einen Augenblick wird die subjektive Einheit (der endliche Raum des Quadrats) zur objektiven Einheit, d.h. zur unendlichen Totalität des realen Raums. Man könnte sagen, dass zwischen 1925 und 1933 das Quadrat und das Oval von Pier and Ocean 5, ein und dasselbe werden.

Lozenge Composition with Four Yellow Lines erreicht das Ziel, einen vergleichsweise multiplen Raum in Synthese zu zeigen.

Seuphor: "Manchmal denkt er, er hat es gefunden. Dann hält er inne, betrachtet das Werk und sagt: Es ist vollbracht. Aber die Uhr seines Lebens tickt weiter und treibt ihn bereits vorwärts. Bald merkt er, dass nichts fertig ist und alles wieder von vorne beginnen muss."

 
 

1931

Die Synthese, die wir in Lozenge Composition with Four Yellow Lines sehen, scheint jedoch zu absolut zu sein, und der ganze vielfältige Aspekt der Welt scheint geopfert zu werden. Vergleicht man diese Raute mit den vorangegangenen Werken und insbesondere mit denen, die bis 1920 entstanden sind, so fällt sofort auf, dass der eher gedrängte Raum der Pier and Ocean 5 oder des Checkerboard with Light Colors innerhalb eines Jahrzehnts vollständig vom Quadrat absorbiert zu sein scheint, das zwischen 1922 und 1933 in dem Versuch verwendet wurde, in einer konzeptionellen Synthese einen Raum neu zu formulieren, der in Wirklichkeit viel strukturierter und komplexer ist.

Mit farbigen Linien, die auch in der Dicke variieren, spielt die quadratische Einheit der Raute mit vier gelben Linien auf die Vielfältigkeit an, ohne sie jedoch in ihrer ganzen, viel größeren Breite zu zeigen. Der Maler sollte bald erkennen, dass derartige Kompositionen nicht die ganze Vielfalt vermitteln, die das Auge in der Natur oder im städtischen Raum wahrnimmt. Während diese Raute von 1933 also als Ankunftspunkt betrachtet werden kann, stellt das Werk auch einen neuen Ausgangspunkt dar.

* * * * *

 

30 - Composition B with Double Line,
Yellow and Gray, 1932

32 - Composition in Black and White
with Double Lines, 1934

33 - Composition with Yellow, 1934

34 - Composition 12 with Blue,
1937-42

 

Betrachtet man die vier Werke 30, 32, 33, 34 in der Reihenfolge, so erkennt man eine allmähliche Zunahme der Anzahl der Linien, die den Raum der Leinwand in immer mehr Teile unterteilen. Die in den 1920er Jahren zu beobachtende Tendenz zu einem Raum immer größerer Verknappung und Synthese weicht allmählich der gegenteiligen Tendenz, wobei ab 1933 schrittweise wieder ein zunehmendes Maß an Artikulation und Komplexität in die Leinwände eingeführt wird.

Wir gehen von einem bestimmten Quadrat, das durch asymmetrische Farbflächen in einen Zustand des dynamischen Gleichgewichts versetzt wird (30), zu einem Quadrat, das durch die Verlängerung seiner Seiten in Spannung versetzt wird (32), und schließlich zu einem "Quadrat" in einem Zustand des Werdens, das eine totale Durchdringung mit den Linien erfahren hat und sich als ständige Variation seiner selbst ausdrückt (34).

Der Raum dehnt sich aus und zieht sich zusammen unter dem Druck der beiden konkurrierenden Richtungen, die für einen Augenblick Gleichwertigkeit und ein stabileres Gleichgewicht erreichen, bevor sie sich wieder zur mehr oder weniger ausgeprägten Dominanz der einen oder anderen Richtung öffnen. Äquivalenzen gegensätzlicher Werte werden geboren und lösen sich auf, gehen verloren und finden sich in immer neuen Formen wieder, ohne jemals vollständig erreicht zu werden.

Die Idee des Quadrats, also einer Äquivalenz von Gegensätzen, scheint auch hier eher als Prozess denn als Zustand ausgedrückt zu werden. Das feste und bestimmte Quadrat der 1920er Jahre scheint nun bei der Berührung mit den Linien eine Verwässerung zu erfahren.

34 - Composition 12 with Blue, 1937-42

34 - Diagram

34: Wir gehen von einem Bereich extrem variablen Raums (dem zentralen Feld), in dem die Gleichwertigkeit in einem Zustand des Werdens erscheint, zu einem niedrigeren Feld auf der rechten Seite, wo eine stabilere Synthese entgegengesetzter Werte durch Blau hervorgehoben wird. Der Farbakzent scheint die Aufmerksamkeit auf ein Quadrat lenken zu wollen, das als eine Art Modell erscheint, von dem die im zentralen Bereich beobachteten Flächen eine Variation darstellen. Ich erinnere mich an ein ähnliches Konzept, das 24 Jahre zuvor auf andere Weise in der Komposition II von 1913 zum Ausdruck kam.

 

           

 

Wenn wir einen Moment lang die Kompositionen betrachten, die Mondrian zwischen 1922 und 1932 produzierte und die Variationen zum Thema des Quadrats beinhalten, scheinen wir all diese verschiedenen Quadrate und rechtwinkligen Proportionen für einen Moment in der Composition N. 12 with Blue (34) zusammengeführt zu sehen.

 

* * * * *

 

Von der Composition 12 with Blue (34) nach New York City (35) scheint es ein kurzer Schritt zu sein.

Tatsächlich aber war der Prozess der räumlichen Vervielfältigung nicht so schnell abgeschlossen. Es war ein mühsames Unterfangen, das sieben Jahre geduldiger Arbeit und eine weitaus größere Anzahl von Werken erforderte. Mondrian schuf zwischen 1932 und 1942 nicht weniger als fünfundsechzig Leinwände, von denen einige nach 1942 in New York City überarbeitet wurden. Wir haben diese Werke im Abschnitt Neoplastizismus Teil 2 unter vier Gruppen untersucht, die zeigen, wie Mondrian mehrere Lösungen anwandte, die letztlich zum gleichen Ergebnis führten.

Das Ergebnis wurde schließlich 1942-43 mit New York City (35) Broadway Boogie Woogie (36) und Victory Boogie Woogie (37) erreicht.

 

35 - New York City, 1942

36 - Broadway Boogie Woogie, 1942-43

37 - Victory Boogie Woogie, 1942-44 Unfinished

Die zuvor einheitlich schwarzen Linien wurden um 1940-41 in farbige Linien umgewandelt. Das Aufblühen der farbigen Linien stellt eine weitere Entwicklung im Prozess der Vervielfältigung der Teile dar, die um 1932 begann.

35: Wir sehen hier nicht weniger als 23 Linien, von denen 15 gelb, 4 rot und 4 blau sind. Die Linien dehnen und kontrahieren den Raum der Leinwand, der in einem instabilen Gleichgewicht zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen gehalten wird. Es gibt ein abwechselndes Vorherrschen von Horizontalen und Vertikalen zusammen mit unterschiedlichen Farbkombinationen in den verschiedenen Bereichen. Horizontale und Vertikale erreichen manchmal Gleichwertigkeit und nehmen Proportionen von vergleichsweise größerer Stabilität an, d.h. quadratische Formen.

 

New York City, 1942

Diagramm A

Diagramm B

Diagramm A hebt eine Reihe von quadratischen Formen hervor, die von 1 bis 7 nummeriert sind und von denen sich einige gegenseitig durchdringen. Jedes Quadrat unterscheidet sich von den anderen auch in Bezug auf die Position, die Linien der gleichen Farbe darin einnehmen. Die Quadrate 1 und 2 sind von der Form her ähnlich, unterscheiden sich aber in der jeweiligen Farbverteilung. Das Gleiche gilt für 3 und 4. Die Quadrate 1, 2 und 7 werden von sechs bzw. acht verschiedenfarbigen Linien gebildet und erscheinen weniger scharf abgegrenzt. Mondrian scheint vor allem im Quadrat 2 darauf bedacht gewesen zu sein, die drei Farben so zu kombinieren, dass eine Synthese von Gelb, Rot und Blau zum Ausdruck kommt. Die Gleichwertigkeit löst sich nach rechts auf und das Quadrat wird zu einem Rechteck. Die mit den drei Grundfarben vorgezeichnete einheitliche Synthese geht verloren, wenn nur eine Farbe in Betracht gezogen wird. Andere Quadrate werden aus nur zwei Farben gebildet (5 und 6). In 6 erlangt ein komplett gelbes, horizontales Rechteck Gleichwertigkeit mit einer roten Linie; dasselbe geschieht in 5 mit Blau.

In 1 hat ein aus vier gelben Linien gebildetes Feld die Proportionen eines waagerechten Rechtecks. Das Rechteck erreicht eine Äquivalenz von vertikal und horizontal, wenn es in Bezug auf die blaue Linie oben oder ohne diese aber in Bezug auf die rote Linie unten betrachtet wird. Betrachtet man das gelbe Rechteck stattdessen sowohl in Bezug auf die blaue als auch auf die rote Linie, so werden die anfangs leicht horizontalen Proportionen leicht vertikal. Wir sehen also ein dynamisches Quadrat, das zwischen einer leichten horizontalen Dominanz (alles Gelb) und einer leichten vertikalen Dominanz (Gelb, Rot und Blau) oszilliert.

Diagramm B zeigt einen Teil einer vertikalen roten Linie und einen Teil einer horizontalen blauen Linie, die dazu neigen, ein gelbes Rechteck zu einer quadratischen Form aus den drei Grundfarben zu konzentrieren (8). Jede Farbe braucht die andere, um das Gleichgewicht und die Einheit zu erreichen, die in der quadratischen Proportion zu sehen ist. Mit 9 blicken wir auf ein gelbes horizontales Rechteck, das für einen Moment zu einer quadratischen Form aus den drei Grundfarben wird, bevor es von einer imposanten roten vertikalen Linie nach links weggezogen wird. Das unterschiedliche visuelle Gewicht der Farben hat einen Einfluss auf die Unmittelbarkeit, mit der die Beziehungen wahrgenommen werden.

Das Auge wandert entlang der Linien, bleibt stehen, wählt eine bestimmte Konfiguration aus und verweilt darauf, aber rundherum wird der Raum durch die wechselnde Dominanz der verschiedenen Farben und Richtungen wieder in Bewegung gesetzt.

Quadratische Formen entstehen und lösen sich in verschiedenen Kombinationen zwischen gelben, roten und blauen Linien in New York City auf. Die permanente schwarz-weiße quadratische Einheit der 1920er Jahre ist nun dynamisch und vielfältig geworden; eine dynamische Äquivalenz von Gegensätzen, wie Mondrian zu sagen pflegte; ein Konzept, das der Maler seit Pier und Ocean 5 im Kopf hatte und das nun eine beredte Lösung nicht nur in Bezug auf die Form findet, wie wir in Composition N. 12 with Blue gesehen haben, sondern auch in Bezug auf die Farbe.

 

1 - 1920

2 - 1921

3 - 1932

4 - 1933

5 - 1942

Betrachten Sie 1, 2, 3, 4, 5 als eine einzige Sequenz. Im Jahr 1920 hatten die farbigen Flächen die Funktion, einen Raum zu dezentralisieren und zu dynamisieren, der von einem einzigen großen weißen Quadrat dominiert wurde, das von schwarzen Linien gebildet wurde. Das Quadrat nahm über einen Zeitraum von 20 Jahren Farbe auf (2, 3, 4) und vervielfältigte sich 1942 über die gesamte Fläche der Leinwand, wobei es sich in Bezug auf Position, Proportionen und Beziehungen zwischen den verschiedenen Farben veränderte. Die einzelne schwarz-weiße Einheit von 1920 hat eine Durchdringung mit vielfältigem Raum erfahren und ist nun ganz von Farbe und Dynamik durchdrungen.

Die Farbe, die zuvor ausschließlich der Fläche vorbehalten war (1, 2, 3), wurde zuerst schwach (4) und dann konsequent (5) auf die Linie übertragen, wobei Mondrian sich mit Kompositionen in unendlicher Entwicklung auseinandersetzte. In New York City (5) scheint der dynamische Aspekt den gemessenen Aspekt, der zuvor mit Flächen ausgedrückt wurde, zu überwältigen; der unendliche Raum siegt über den endlichen und die Vielheit über die Einheit. Das Auge hat kaum Zeit, eine stabilere Beziehung zu erkennen, bevor es in den dynamischen und kontinuierlichen Fluss der Linien eintaucht. Sogar die Segmente, die in den vorangegangenen neoplastischen Kompositionen immer vorhanden waren, verschwinden in 5, dem eine endliche und dauerhaftere Komponente fehlt, um ein Gegengewicht zur dynamischen Bewegung der Linien zu schaffen und so einen gewissen Grad an räumlicher Beständigkeit zu suggerieren.

Hatte man nach der extremen Synthese, die 1933 (4) erreicht worden war, das Bedürfnis, die einheitliche Synthese für die Vielfältigkeit zu öffnen, so war es nun notwendig, wieder ein größeres Maß an Synthese und Beständigkeit in einem Raum herzustellen, der in der Zwischenzeit eine beträchtliche Vervielfältigung erfahren hatte und sich ununterbrochen mit den Linien allein fortsetzte.

Dies war der Ausgangspunkt für Broadway Boogie Woogie und Victory Boogie Woogie.

 

35 - New York City, 1942

36 - Broadway Boogie Woogie, 1942-43 - Diagram

37 - Victory Boogie Woogie, 1942-44 Unfinished

As explained in the detailed examination, the yellow, red, and blue space of virtually infinite expansion (35) progressively concentrates in a finite dimension of those colors in Broadway Boogie Woogie (36 - Diagramm). Victory Boogie Woogie shows rectilinear sequences which are made up of a tighter rhythm of small rectangles and squares, so closely arranged as to reduce the sense of linear continuity to the absolute minimum. The space that continues uninterruptedly in New York City becomes a space of more solid permanence and duration in Broadway Boogie Woogie and even more so in Victory Boogie Woogie where the lines as such almost disappear. An equilibrium between expansion towards manifold infinite space (the natural) and concentration towards finite syntheses (the spiritual) is thus re-established.

Wie in der Detailuntersuchung erläutert, konzentriert sich der gelbe, rote und blaue Raum von nahezu unendlicher Ausdehnung (35) im Broadway Boogie Woogie zunehmend auf eine endliche Dimension dieser Farben (36 - Diagramm). Victory Boogie Woogie zeigt geradlinige Sequenzen, die sich aus einem engeren Rhythmus von kleinen Rechtecken und Quadraten zusammensetzen, die so eng angeordnet sind, dass der Sinn für lineare Kontinuität auf ein absolutes Minimum reduziert ist.
Der Raum, der sich in New York City ununterbrochen fortsetzt, wird in Broadway Boogie Woogie und noch mehr in Victory Boogie Woogie, wo die Linien als solche fast verschwinden, zu einem Raum von festerer Beständigkeit und Dauer. Ein Gleichgewicht zwischen der Ausdehnung in Richtung des mannigfaltigen unendlichen Raums (das Natürliche) und der Konzentration auf endliche Synthesen (das Geistige) wird so wiederhergestellt.

Die Konzentration der unendlichen Linien (35) auf eine gemessene Ebene (36) findet allmählich statt. Ich möchte nun kurz diesen Vorgang rekapitulieren, der im vorherigen Abschnitt - Neoplastizismus Teil 3 - ausführlich erklärt worden ist.

 

New York City

New York City Diagramm

Broadway Boogie Woogie

Die Treffpunkten zwischen den verschiedenfarbigen Geraden zeigen nicht mehr eine einzige homogene Ebene wie bei den schwarzen Geraden, sondern die Prävalenz einer Farbe über die andere. Die Farben scheinen auf drei verschiedenen Ebenen zu liegen: Gelb, Rot und Blau erscheinen jeweils auf einer ersten, zweiten und dritten Ebene. Die Überlagerung produziert einen so unerwarteten wie unerwünschten dreidimensionalen Effekt, mit dem Mondrian nicht zufrieden sein konnte, da es gerade eine der Intentionen des holländischen Malers gewesen war, jede perspektivische Illusion einer angeblichen und inexistenten dritten Dimension auszuschließen, um die Realität der Welt in den zwei realen Dimensionen des Bildes auszudrücken. Seitdem stellt sich das Problem, die drei verschiedenen Ebenen des Gelb, Rot und Blau auf eine einzige Ebene zurückzubringen.

Der Übergriff des Gelb auf das Rot oder des Rot auf das Blau wird dadurch wieder ausgeglichen, dass jede Gerade in etwas seitlicher Versetzung das Bruchstück der zuvor bedeckten rechtwinkligen Gerade wiederherstellt (siehe New York City Diagramm oben). Die Wiederherstellung der einen und einzigen Ebene geschieht über die Vereinigung der drei Farben, nicht ohne deren spezifische Qualität zu bewahren: gelbe, rote und blaue Portionen beginnen, sich innerhalb jeder Geraden in der Gestalt kleiner Quadraten zu durchdringen. So entsteht der Broadway Boogie Woogie.

 

BBW Diagramm A

BBW Diagramm B

BBW Diagramm C

BBW Diagramm D

BBW Diagramm E

BBW Diagramm F

Wie in der Detailbetrachtung zu sehen ist, entstehen aus den kleinen Quadraten Symmetrien (Diagramm B), die monochromatische Flächen erzeugen (Diagramm C); diese verwandeln sich in eine bestimmte Anzahl von zweifarbigen Flächen (Diagramm D), die dann zu einer einzigen Fläche werden, die eine Synthese der drei Grundfarben darstellt (Diagramm E). Der Raum des Broadway Boogie Woogie verwandelt sich ununterbrochen von einem Zustand der Vielheit in einen der Einheit, von den vielen (Diagramm A) in den einen (Diagramm E).

Unterhalb der gelben, roten und blauen Synthese zeigt Diagramm F eine zweite Ebene, die die gleiche Größe wie die darüber liegende Ebene aufweist, aber nur aus Rot und Grau statt aus den drei Grundfarben besteht. Der Innenraum der Ebene zeigt ein graues Viereck und zwei graue Segmente, von denen eines Teil einer horizontalen Linie ist, die durch die Ebene verläuft. Nach der Synthese der Primärfarben (Diagramm E) werden die Farben in dieser rot/grauen Ebene wieder reduziert und die äußere Dynamik der Linien neigt dazu, die zuvor erreichte Synthese zu stören, die sich dann zum äußeren Raum hin öffnet und zum dynamischeren und variablen Raum der Linien zurückfließt (Diagramm F).

Die Geometrie des Broadway Boogie Woogie lässt sich also in einer dynamischen Sequenz zusammenfassen, die von einer Vielfalt von Geraden zur einheitlichen Synthese einer Fläche kommt und sich von der Einheit einer Fläche wieder zu einer Vielfalt von Geraden öffnet. Von einer Ausdehnung hin zu einer zunehmenden Verdichtung und dann von der Verdichtung wieder zur Ausdehnung: davon lebt der Broadway Boogie Woogie – eine Idee, die der Maler bereits 1915 mit Pier and Ocean 5 zum Ausdruck brachte, als er ein Zeichen der Äquivalenz in ein Quadrat aufnahm, das sich weiter oben zum vielfältigen Raum öffnet. Wie 1915 so ist auch 1943 eine Horizontale, die die vertikal erreichte Konzentration wieder ausdehnt.

Wenn die Horizontale ein plastiches Symbol für das Natürliche und die Vertikale für das Geistige ist, so sagen uns beide Bilder, dass jede durch das Denken erzeugte Synthese (das Geistige) notwendigerweise partiell und vorübergehend ist und sich daher wieder dem vielseitigen und sich ständig verandernden Aspekt der physischen Realität und des Lebens (dem Natürlichen) öffnen muss.

Nachdem sich das Quadrat in Pier and Ocean 5 von 1915 als eine Synthese der ganzen Komposition gesetzt hatte, d.h. als Synthese des oval eingeschlossenen Raumes, musste es sich notwendigerweise wieder dem Vielfältigen öffnen, beziehungsweise dazu tendieren, zum ganzen, oval eingefassten Raum zu werden, ohne sich jedoch dabei als Quadrat zu verlieren. Diesem Ziel dienen alle Bilder, die Mondrian zwischen 1915 und 1942 gemalt hat.

 

* * * * *

 

Der im BBW zu beobachtende Prozess – vom Vielfältigen hin zum Einen und vom Einen wiederum zum Vielfältigen – verdichtet in einem einzigen Bild das ganze Werk Piet Mondrians.

 

1 - 1893

2 - 1899

3 - 1901

4 - 1907-08

In der Tat fasst sich seine ganze Arbeit in einer Bewegung zusammen, die sich, nach Verwandlung des Vielfältigen der Natur (1 - 2 - 3 - 4)



5 - 1912

6 - 1913

7 - 1919

8 - 1920

in einen abstrakten Raum (5 - 6 - 7 - 8)


9 - 1927

10 - 1930

11 - 1930

12 - 1933

zunehmend auf das Eine konzentriert (9 - 10 - 11 - 12)



13 - 1934

14 - 1937-42

15 - 1942

16 - 1942-43

um sich dann wieder dem Vielfältigen zu öffnen (13 - 14 - 15 - 16).


Vom Vielfältigen (1 bis 7) zum Einen (8 bis 12) und vom Einen zum Vielfältigen (12 bis 16). Was wir im Broadway Boogie Woogie als Synthese vorfinden, ist eine Wegstrecke von etwa vierzig Jahren. Der Broadway Boogie Woogie fasst ein ganzes Leben zusammen. Dass er das letzte vom Künstler vollendete Werk darstellt, ist vielleicht kein Zufall.

Die verblüffende Kohärenz in der künstlerischen Wegstrecke der holländischen Meisters lässt an gewisse wunderbare Naturprozesse denken, die das menschliche Denken nicht anders kann als auf eine präzise Verkettung von Ursache und Wirkung zurückzuführen, d.h. auf ein mentales Design. Ich weiß nicht, ob die Natur wirklich einen Plan hat, wenn aber ja, dann hätte Mondrian, wie alle wahren Künstler, in seinem ganzen Leben nichts anderes getan, als diesem ‚Plan’ in spontaner Weise zu gehorchen. Prozesse dieser Art lassen sich nicht ausdenken, sondern nur realisieren, Schritt für Schritt, der eigenen Intuition folgend. Wenn die eigene Intuition aus einer solchen Tiefe schöpft und so vorausschauend ist, erlangen die Resultate die ganze verblüffende und organische Kohärenz, die hier, wohlgemerkt, nur an fertigen Sachen aufgezeigt wird. Für uns ist es heute viel einfacher, das Werk in seiner Gesamtheit zu sehen. Natürlich hatte der Maler in dem Moment, als er Leinwand und Pinsel zur Hand nahm und sich von seinem Auge leiten ließ, kein Bewusstsein von dem, was er gerade schuf.

Das Werk Piet Mondrians war die geduldige Suche nach einem Bild, das von sich aus fähig sei, seine Lebenseinstellung in klarer und deutlicher Form auszudrücken. Einzelne Bilder aus diesem Kontext eines dynamischen und ununterbrochenen Prozesses herauszulösen, hätte keinerlei Sinn. Man muss den Raum, der sich langsam von einem Bild zum anderen entwickelt, sehen: von den Dünen, den Architekturen und Bäumen bis zum Broadway Boogie Woogie. Eines Tages wird es eine große Ausstellung geben müssen, die das Werk in seiner Gesamtheit zeigt und die wichtigsten Bedeutungen erklärt. Man kann Mondrian nicht weiter an einzelnen Bruchstücken erläutern. Die bislang veranstalteten Ausstellungen lassen sich mit einem Musikstück vergleichen, dessen einzelne Noten an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gespielt werden. Auch als es eine Gelegenheit gab, eine ansehnliche und bedeutende Gruppe von Werken in einer einzigen Ausstellungen zu versammeln, die Möglichkeit, diesbezüglich Einblicke zu gewähren, wurde nicht in vollem Umfang genutzt.

 

Victory Boogie Woogie is the last painting Mondrian has been working at. The canvas is the same size as the one used for Broadway Boogie Woogie but this time in the lozenge position. What characterizes the composition at first sight is a further increase in multiplicity.

 

Victory Boogie Woogie, 1942-44, Unfinished

 

Ein anderer wichtiger Unterschied zum Broadway Boogie Woogie besteht in der fast vollständigen Abwesenheit von Kontinuität der Geraden, die im Victory Boogie Woogie auf sieben horizontale und zwei vertikale geradlinige Sequenzen reduziert sind. Im Broadway Boogie Woogie treten die Geraden kontinuierlich auf, da der Raum zwischen den kleinen Quadraten vorwiegend gelb ist. Die geradlinigen Sequenzen des Victory Boogie Woogie sind jedoch in einem engen Rhythmus von kleinen, verschiedenfarbigen Quadraten gestrickt; der Rhythmus ist so eng gedrängt, dass er das Gefühl von linearer Kontinuität auf das absolute Minimum reduziert. Im Victory Boogie Woogie sind die kleinen Flächen in geradlinigen Sequenzen angeordnet, deren Kontinuität mit dem Wechsel der Farbe, Größe und Position der Flächen verschwindet. Werden im Broadway Boogie Woogie die Flächen aus den Geraden gebildet, zu denen sie wieder zurückkehren, scheinen im Victory Boogie Woogie Geraden und Flächen zu ein und derselben Sache zu werden.

In einer am 24. Mai 1943 J. J. Sweeney geschickten Notiz schreibt Mondrian: "Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Arbeit in Schwarz, Weiß und kleinen Farbflächen nur ein ‚Zeichnen’ in Ölfarben gewesen ist. Beim Zeichnen machen die Linien das Hauptmittel des Ausdrucks aus; beim Malen die Farbflächen. (...)"

In der ganzen europäischen neoplastischen Phase wurden Form und Farbe getrennt gehalten. Die Geraden begrenzten von außen die Farbflächen, ohne an ihrem Raum direkt teilzuhaben. 1941 wird die Zeichnung (schwarze Geraden) zur Farbe; und wenn im Broadway Boogie Woogie die Geraden zu Flächen werden, gibt es zwischen Form und Farbe, Zeichnung und Malerei keinen Unterschied mehr. Gedanke und Gefühl werden eins.

Gleichwohl ist der Raum sehr dynamisch (nicht zuletzt aufgrund des Rautenformats), doch handelt es sich um einen Dynamismus, der sich aus einer virtuell unendlichen Anzahl von Flächen erzeugt, die untereinander in Wechselwirkung stehen. Während die endliche Dimension der Flächen nun zu überwiegen scheint, tendiert ihre riesige Anzahl und Vielfalt dazu, einen unendlichen Raum zu evozieren. Der unendliche Raum der Geraden wird nun durch den endlichen Raum der Flächen ausgedrückt.

Mit der allmählichen Wiedereröffnung der Kompositionen ab 1934 zur Komplexität hin und dem Hervorgehen der Farbe aus den Geraden - Farbe, die dann zu einer Vielfalt von kleinen Quadraten wird, kehrt die nur virtuell durch die schwarzen Geraden verkörperte Totalität in greifbarer und konkreter Form im Victory Boogie Woogie zurück; es ist, als wollten sich die gleichförmigen schwarzen Geraden zusammenziehen, um die ganze, bislang außerhalb des Bildes liegende Mannigfaltigkeit wieder hereinzuholen. Im Victory Boogie Woogie erscheinen die Geraden als Sequenzen kleiner Quadrate oder Flächen, die innerhalb des Bildes beginnen, sich entwickeln und enden; die Geraden erstrecken sich nicht mehr über den Bildrand hinaus, da sich nun die ‚ganze’ Mannigfaltigkeit der Welt innerhalb des Bildes selbst manifestiert. Die subjektive Darstellung fällt tendenziell mit der objektiven Realität der Welt zusammen.

In den letzten Monaten seines Lebens arbeitet Mondrian an Kompositionen mit farbigen Rechtecken, die er an den Wänden seines Ateliers frei nebeneinander anbringt studio; der Raum des Bildes öffnet sich dem Raum der Realität. Einerseits kehrt die objektive Realität der Welt (der Raum der unendlichen Geraden der sich in Victory Boogie Woogie als "unendliche" Anzahl und Varietät der Flachen ausdruckt) wieder in das Bild zurück, andererseits geht die subjektive Realität der Kunst hinaus und überträgt sich auf die Welt. Der Raum der Kunst wird zu dem des Lebens.

Der Victory Boogie Woogie ist so etwas wie ein geistiges Testament, das eine Aufforderung an die kommenden Künstler enthält: Die Malerei muss die Disharmonien der realen Welt in plastische Harmonien verwandeln können, die zukünftigen Entwicklungen des Lebens als Modell dienen. Die Kunst muss die Welt verändern können.
Mondrian: "Es wird ein Tag kommen, an dem wir ohne alle die Kunstformen von heute auskommen werden: erst dann, wenn sie konkrete Realität geworden ist, wird die Schönheit ihre Reife erreicht haben."

Der VBW bleibt unvollständig, weil jede menschliche Handlung, die die Welt verbessern will, notwendigerweise unvollständig bleiben wird. Es handelt sich um einen offenen Prozess, der niemals ein Ende haben wird. Deswegen konnte der VBW nicht vervollständigt werden. Er ist nur ein erster Schritt auf dem unendlichen Weg zu einer ausgeglicheneren Welt. Dieses Bild ist zwar nicht vollendet, doch wird es hoffentlich den menschlichen Geist in seiner Suche nach Gerechtigkeit und Harmonie wach halten und begleiten. "Den Menschen der Zukunft", schreibt Mondrian in der Widmung eines seiner Aufsätze zur neuen Gestaltung (Neoplastizismus).

 

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Ohne das bekannteste neoplastizistische Werk des holländischen Malers: die Kompositionen aus schwarzen Linien und kleinen Farbflächen, die allgemein mit seiner Malerei identifiziert werden, im mindesten zu schmälern, glaube ich sagen zu können, dass sie nur eine Übergangsphase in der Ausarbeitung des Raumes darstellen, der schließlich in den letzten zwei, in New York realisierten Boogies zum Vorschein kommt. Dies sind die Bilder, die Mondrian während seiner ganzen Laufbahn in den Fingern lagen. Ein ganzes Leben hat der Maler daran gearbeitet, diesen Typus von Raum auszudrücken: möglichst reich und vielfältig, so wie ihm das natürliche Universum reich und vielfältig erschien, aber zugleich genügend synthetisch und einheitlich, so wie es sein Bewusstsein erforderte und wie es der menschliche Geist mehr oder weniger allgemein erfordert. "Ich war von der Weite der Natur beeindruckt und versuchte, die Ausdehnung, die Ruhe, die Einheit auszudrücken", hatte der Künstler in Bezug auf die Serie Pier and Ocean 1914-15 gesagt.

Ein dynamischer Raum, ins Unendliche ausgedehnt (Broadway Boogie Woogie), der nach und nach dazu gelangt, sich in einer endlichen und beständigeren Dimension zu konzentrieren – nicht aber stehen zu bleiben. Das Leben bleibt niemals stehen; das Gleichgewicht zwischen dem Leben und den Ideen ist dynamisch. Die einheitliche Synthese öffnet sich der unermesslichen Variation des Vielfältigen und wendet sich dann einer neuen Synthese zu. Das Ende des Prozesses fällt mit einem neuen Anfang zusammen und dies gilt für eine virtuell unendliche Reihe von Prozessen.

Ein Bild, in dem das Ende mit einem neuen Anfang zusammenfällt, evoziert einen zirkulären Prozess. Ein Oval? Ein Oval, das sich in geraden Linien ausdrückt? Das Absolute wird relativ. Auch die Natur erscheint uns geradlinig (zum Beispiel der Meereshorizont), enthüllt sich jedoch von einem anderen Beobachtungspunkt aus als rund. Was ist realer? Unsere subjektive Sicht oder die objektive Realität jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmung?

 

   

3

Die Neigung des holländischen Malers, Zirkularität, die Evozierung eines Ganzen, in der Form gerader Linien auszudrücken, geht auf die Jahre 1905-06 zurück, als – in noch embryonaler Form – die ovale Synthese (1, 2) zu einer Synthese von Horizontalen und Vertikalen wird, die sich in den Flügeln einer Windmühle konzentrieren (3).

 

 

4

5

 

6

     

Die überkreuzten Flügel der Mühle (3) werden zu einem Rechteck (4), aus dem sich ein Quadrat entwickelt (5), das die totalisierende Einheit des Ovals durch die unendliche Kontinuität der Geraden ersetzt (6).

7

8

9

Für weitere zwanzig Jahre wird die Totalität des Raumes jenseits des begrenzten Bildfeldes angesiedelt sein (7, 8, 9).

10

11

12

Wann die endlosen Geraden zu eine schier unendlichen Vielfalt von Flächen werden (10, 11, 12), tritt die Totalität, die zuvor jenseits der Leinwand durch die Kontinuität der Gereden ausgedruckt wurde, wieder in das Bild ein. Das bedeutet, dass mit den letzten beiden Boogies der absolute Raum des Ovals wieder in die Leinwand eintritt.

Das Eine dem Vielfältigen zu öffnen, ohne es aus den Augen zu verlieren. Dieses Ziel erschien dem Maler von fundamentaler Bedeutung; so wird verständlich, warum die subjektive Einheit (das Quadrat von Pier and Ocean 5), wenn sie Symbol der objektiven (das Oval) sein will, dieser korrespondieren muss; gleichwohl erscheint es klar, dass dieses nicht in simultaner Weise möglich gewesen wäre (wie in Pier and Ocean 5 beobachtet), sondern nur in einer dynamischen Sicht, die einen Aspekt fortlaufend in einen anderen verwandelt (Broadway Boogie Woogie).

Das Eine dem Vielfältigen zu öffnen, ohne es aus den Augen zu verlieren. Dieses Ziel erschien dem Maler von fundamentaler Bedeutung; so wird verständlich, warum die subjektive Einheit (das Quadrat von Pier and Ocean 5), wenn sie Symbol der objektiven (das Oval) sein will, dieser korrespondieren muss; gleichwohl erscheint es klar, dass dieses nicht in simultaner Weise möglich gewesen wäre (wie in Pier and Ocean 5 beobachtet), sondern nur in einer dynamischen Sicht, die einen Aspekt fortlaufend in einen anderen verwandelt (Broadway Boogie Woogie).
Mit der einheitlichen Fläche, die aus den Gerade entsteht und dann zu dieser zurückkehrt, beziehungsweise mit dem Broadway Boogie Woogie, werden Quadrat und Oval von Pier and Ocean 5 zu ein und derselben Realität, die mal so und mal anders erscheint.

 

Once again I am reminded of a tree or a flower; a simple patch of color that reveals a whole micro universe.

Multiplicity becomes unity and unity opens up to multiplicity. This is the core of the Neoplastic vision, a dynamic and truly new way of perceiving reality.
This is the fundamental idea Mondrian has been trying to express in ever clearer form since the begining of his activity.
Pier and Ocean 5
where a multiplicity of unbalanced small black lines reach equilibrium and unity in a square which then opens up and flows back to multiplicity constitutes the first exhaustive rendering of that fundamental idea. An idea expressed in the brightest colored form 27 years later with Broadway Boogie Woogie.

 

Wohlgemerkt liegt der Ursprung der Idee, dass das Vielfältige zum Einen streben und dieses dann zum Vielfältigen zurückkehren sollte, noch früher als in Pier and Ocean 5 von 1915.


1 - The Red Tree (Evening), 1908-10

2 - Apple Tree in Blue, 1909

3 - Study of Trees, 1912

Man betrachte die Gestalt des Baumes (1, 2, 3): der Stamm ist vertikal, während er sich mit den Ästen horizontal ausbreitet. Dies gilt für 3, wo die untersten Äste gestreckt sind und horizontale Linien bilden, die genau senkrecht zum Stamm stehen, wie es auch für 1 und 2 gilt, wo jedoch der Übergang vom Stamm zu den Ästen gradueller vonstatten geht und wo, anders als in 3, sich eine Tendenz derselben Äste bemerkbar macht, die Bodenlinie auf dem rechten Teil des Bildes zu berühren (siehe auch Apple Tree Pointiliist Version).

Die Bodenlinie verläuft von einer Seite des Bildes zur anderen und scheint daher dem ununterbrochenen Raum – den Dünen der damaligen Zeit – zu korrespondieren: anders gesagt, einer sich unbegrenzt erstreckenden Horizontale. Die Bodenlinie präsentiert eine horizontale Reihe kleiner vertikaler Striche; dies zeigt sich vor allem in 1, 2 sowohl hier und hier. Einige vertikale Striche sammeln und verstärken sich im Stamm, aus dem die Vielfalt der Äste hervorgeht, die sich dann auf der rechten Seite mit der horizontalen Bodenlinie wieder verbinden. Wohlgemerkt, handelt es sich um einen zirkulären Prozess. Die Bodenlinie läuft im Stamm zusammen, der sich in die Äste verwandelt, die wiederum nacheinander in die Bodenlinie zurückkehren.

Über die Vertikale (Stamm) wird ein unbegrenzter Raum (Bodenlinie) zu einem vielfältigen Raum, der sich jedoch innerhalb des Bildes in einer Synthese ausdrückt (Gesamtheit der Äste), um dann wieder in die vielfältige Ausdehnung des Bodens zurückzufließen, der innerhalb des Bildes nicht mehr darstellbar ist. Mutatis mutandis sehen wir dasselbe in Pier and Ocean 5, wo die Horizontale des Meeres von der Vertikale (Pier) in einer Synthese (Quadrat) verdichtet wird, die sich nach oben hin zur Horizontale öffnet, um dann in den vielfältigen Raum zurückzufließen; wie in Broadway Boogie Woogie, wo der virtuelle unendliche Raum der Geraden in der einheitlichen Synthese einer Fläche konzentriert, die sich später der unendlichen Ausdehnung der Geraden öffnet.

Die objektive Totalität (ununterbrochener Fluss des Bodens) geht durch die vereinheitlichende Handlung des Stammes in eine momentane subjektive Synthese (Gesamtheit der Äste) über, die dann wieder in die objektive Totalität zurückfließt, aus der eben diese Synthese hervorgegangen ist. Durch den Stamm wird das Objektive subjektiv und dann wieder objektiv. Gerade so wie das Quadrat von Pier and Ocean 5 und die Einheit von Broadway Boogie Woogie, die das Vielfältige synthetisch ausdrücken und sich dann wieder der Vielfalt zuwenden.

Schon der naturalistische Baum enthüllt also in ganz und gar embryonaler Form diesen Prozess vom Vielfältigen zum Einen und vom Einen zum Vielfältigen, der sich sechs Jahre später in abstrakter, d.h. allgemeiner Form (Pier and Ocean 5) und siebenundzwanzig Jahre später in den lebendigsten Farben der Welt (Broadway Boogie Woogie) darstellt. Wie gesagt, ist der Baum ein Universum im Kleinen, Metapher jenes Prozesses der Subjektivierung des Objektiven (Mondrian), der das ganze Ouevre des holländischen Meisters dirigiert. Dass schon im Baum ein impliziter Bezug zu einem zirkulären Prozess vorliegen könnte, scheint eine Bestätigung in The Red Tree (1) zu finden, wo oben rechts ein Rund zu bemerken ist oder auch hier, wo das Ganze eine ovale Kontur anzudeuten scheint.

 

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Betrachten wir nun weitere Analogien zwischen Broadway Boogie Woogie und einigen früheren Werken:

 

Woods near Oele, 1908, Oil on Canvas, cm. 128 x 158

Broadway Boogie Woogie, 1942-43

Der Vergleich dieser beiden Gemälde bringt interessante Analogien ans Licht. In dem Gemälde von 1908 sehen wir einen Kontrast zwischen horizontalen und vertikalen geradlinigen Stößen, die einen Moment der Synthese in der kreisförmigen Form der untergehenden Sonne im oberen rechten Abschnitt finden. Das Gemälde von 1943 zeigt ebenfalls den Kontrast zwischen gegensätzlichen Linien, die einen Moment der Synthese in der Einheitsebene im oberen rechten Bereich finden. Die Sonne und die einheitliche Fläche des Broadway Boogie Woogies nehmen innerhalb der Komposition die gleiche Position ein.

 

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Im Broadway Boogie Woogie geht die Farbe Gelb von einem dynamischen und äußeren Zustand (Linien) zu einem größeren Grad der Verinnerlichung und vergleichenden Ruhe innerhalb der Einheitsebene über. Der innerste Teil der Einheit ist in der Tat ein gelber Bereich, der eine leichte horizontale Dominanz entwickelt. Die neoplastischen Linien (die eine physische Realität von unendlicher Ausdehnung symbolisieren) konzentrieren sich in einer Ebene, die dem Endlichkeitsraum des Denkens im Menschen entspricht. Das Natürliche ist im Geistigen konzentriert; das Geistige (die vertikale Ebene) offenbart eine natürliche Seele (die gelbe horizontale Fläche).

 

Church at Domburg with Tree, 1909, Oil on Cardboard, cm. 36 x 36

Broadway Boogie Woogie, 1942-43

1909 malt Mondrian Church at Domburg with Tree. Im Bild, das eher einer Skizze gleicht, weil es in schnellen Strichen ausgeführt ist, sieht man die Fassade einer Kirche, innerhalb derer das Profil eines Baumes zu erkennen ist, d.h. ein Symbol des Natürlichen innerhalb eines geistigen Symbols. Das Bild von 1909 erscheint als eine Art von Vor-Erinnerung für all das, was sich in den nächsten dreißig Jahren entwickelt hat. In der Tat verinnerlicht die Vertikale in der einheitlichen Fläche des BBW – jene Vertikale, die Mondrian mit dem Geistigen identifizierte – eine horizontale Proportion (die der Künstler mit dem Natürlichen identifizierte) von gelber Farbe, einer Farbe, die im BBW dem Außenraum entspricht. 1909 ist es ein Baum, den die Kirche verinnerlicht.


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In artikulierterer Form drückt sich etwas Ähnliches in einem anderen Bild aus, das eine Kirchenfassade darstellt, Church Tower at Domburg; ein Werk, das der Künstler 1911 geschaffen hat.

 

Church Tower at Domburg, 1911, Oil on Canvas, cm. 75 x 114

Broadway Boogie Woogie, 1942-43

Der architektonische Körper eines Kirchturmes erhebt sich vom Grund bis zum oberen Rand des Bildes und geht dabei von einem Indigoblau (Boden) über Kobaltviolett (der untere Teil des Gebäudes) bis zu Abstufungen von Magenta über, die sichtlich mit den Farben des Himmels kontrastieren. Dieser erscheint grün, gesprenkelt mit Fetzen von Himmelblau. Magenta und Blau drücken den größten Kontrast zwischen dem geschlossenen Körper des Gebäudes und dem offenen Raum des Himmels aus.

Links unten verbreitert sich das vertikale Volumen des Gebäudes in horizontaler Richtung mit einem architektonischen Ausläufer, der sich vom Turm absetzt und schräg zum Boden hinuntergeht. Analog dazu scheint auf der rechten Seite eine kompakte Masse von Blau zwischen der Vertikalen des Gebäudes und der Horizontale des Bodens vermitteln zu wollen. Der untere Teil des Gebäudes zeigt zwei Fenster: eins ist im seitlichen linken Ausläufer eingelassen, das andere in der Mitte des Turmes. Beide Fenster zeigen ähnliche Dimensionen und Farben. Nach oben hin stoßen wir auf ein Paar von Fenstern, zuerst ein kleines und dann ein größeres, die im Vergleich zu den unteren zusammengerückt sind; beide sind nun dem vertikalen Körper intern.

Im Vergleich zu den beiden unteren Fenstern haben die oberen einen klareren Farbton (ein Türkisblau), der wie ein Vermittler zwischen dem Grün und Blau des Himmels erscheint. Fast scheint es, als würde sich der äußere Raum des Himmels im vertikalen Körper des Turmes verinnerlichen, indem er sich in jenen beiden Fenster konzentriert. Das Natürliche (Himmel) verinnerlicht sich im Geistigen (Turm). Die beiden Fenster, die unten getrennt und voneinander entfernt erscheinen, rücken zusammen, als ob die vertikale Entwicklung des Turmes sie vereinigte; die Vertikale konzentriert und verbindet, was die Horizontale des Bodens ausweitet und distanziert (wie in den Dünen).

All das bildet einen Keim zu Pier and Ocean 5, wo sich vier Jahre später in abstrakter Form eine analoge Entwicklung mit einer Vertikalen (Pier) bemerkbar macht, die in Wechselwirkung mit der Horizontalen (Meer) eine Synthese (Quadrat) erzeugt, in der das Geistige (Vertikale) das Natürliche (horizontale Ausdehnung des Meeres) verdichtet.

Analog zu dem in Pier and Ocean 5, auch in Church Tower at Domburg Beobachteten, bricht ein horizontaler Impuls die Synthese der Vertikalen auf. An der Spitze des Turmes sehen wir nämlich ein anderes, engeres Paar von Fenstern, die von einem architektonischen Element bedeckt erscheinen. Im Vergleich zu dem unteren Fensterpaar aus Türkisblau scheint jenes oben gelöscht zu sein; tatsächlich ist es von einem dunklen Blau, einem Indigoblau, nicht unähnlich jenem, das wir unten bei den voneinander entfernt stehenden Fenster bemerkt haben. Einige Fragmente des Himmelblau bedecken das oberste Ende des Gebäudes und drücken damit eine horizontale Vorherrschaft aus, die das vertikale Profil des Turmes aufbrechen zu wollen scheint, als wolle dieser die Menge an Türkis, die er in den zwei mittleren Fenstern konzentriert hatte, nach außen fließen lassen.

 
 

Pier and Ocean 5 , 1915 - Diagramm

Noch einmal von unten nach oben in der Sequenz gelesen, sehen wir zwei elementare, in die Horizontale übersetzte Vertikale (die zwei Fenster in der Nähe des Bodens), die sich vereinigen, indem sie den äußeren Raum des Himmels im vertikalen Körper konzentrieren und sich dann den Anregungen der Horizontalen wieder öffnen und dabei den Raum aus dem Inneren wieder ins Äußere fließen lassen (die Fenster sind gelöscht). Anfangs verinnerlicht sich der äußere Raum und dann veräußerlicht sich der innere Raum.

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Auch im Triptychon Evolution haben wir eine Veräußerlichung der Innerlichkeit beobachtet (von der linken Tafel zur mittleren) und eine sukzessive Verinnerlichung des Erlebnisses (der gelbe Bereich der mittleren Tafel konzentriert sich in den beiden Stellen der rechten Tafel). Siehe hier eine ganze Analyses der Gemälde.

 

 

Evolution, 1911, Oil on Canvas, Central Panel cm. 87,5 x 183 Side Panels cm. 85 x 178

Gerade so wie in Pier and Ocean 5 und dann in Broadway Boogie Woogie, wo sich das Äußere verinnerlicht und dann das Innere in das Äußere zurückfließt. Es ist ein und dieselbe Idee, die sich von Red Tree (Evening) (1908-10) Church at Domburg with Tree (1909) bis Church Tower at Domburg (1911), Evolution (1911) und dann Pier and Ocean 5 (1915) bis zu Broadway Boogie Woogie (1942-43) immer klarer ausdrückt.

 

1908-10

 

1909

 

1911

 

1911

 

1915

In Broadway Boogie Woogie finden dieselben Ideen einen Ausdruck in abstrakter Form. Das bedeutet, dass der Broadway Boogie Woogie uns nicht nur von einer Kirche, einer menschlichen Gestalt oder einem Pier am Meer erzählt, sondern von all dem und noch mehr dazu. Unter Abstraktion vom Besonderen und Zufälligen, ruft der Broadway Boogie Woogie eine universale Sicht der Realität hervor.

In den o.a. Werken resümiert sich Mondrians ganze Anstrengung. Indem wir diese Werke miteinander in Beziehung setzen, verstehen wir die Notwendigkeit des Abstraktionsprozesses besser. Das ist es also, was sich im Übergang von der naturalistischen (figurativen) zur abstrakten Sicht ändert und was sich nicht ändert. Mondrian: "Das Leben ist eine ständige Vertiefung ein und derselben Sache."

 

 

1942-43

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Die regelmäßigen Schemata, die der Holländer im Laufe seines Schaffens verwendete, dienten zur Abstützung der Konstruktion und Definition des neuen Raumes, der langsam Gestalt annahm. Nachdem er die ihm notwendigen Schritte unternommen hatte, befreite sich der Künstler von den Schemata wie ein Gebäude sich vom Gerüst befreit, das zur Abstützung während der verschiedenen Bauphasen diente.

 

1 - 1913

2 - 1915

3 - 1919

4 - 1920

       

Im Broadway Boogie Woogie verliert das Zentrum der Komposition, das doch immer der privilegierte Punkt gewesen war, in dem sich die einheitliche Synthese manifestierte (1, 2, 3, 4), seine Bedeutung.

 

1 - 1919

2 - 1919

3 - 1919

4 - 1920

Der regelmäßige Aufbau und die proportionalen Module, die dazu gedient hatten, die unkontrollierte Entwicklung der Form in Schach zu halten (1, 2, 3 ,4), lösen sich auf.

 

 

In den zwei letzten Boogies (72, 73) ist alles im Werden. Das Eines ruft das Andere hervor und die ersten beiden werden zu einem Dritten und setzen einen Prozess in Gang, in dem nichts anderes festgelegt ist als nur die rechtwinklige Beziehung und die fünf Farben. Alles andere ist eine freie und unberechenbare Entwicklung verschiedener Formen.

 

Broadway Boogie Woogie

Victory Boogie Woogie

Anders als gemeinhin angenommen, zeigt Mondrians malerische Entwicklung, dass er durchaus nicht die Absicht hatte, das Existierende in starre geometrische Schemata zu zwängen, sondern gerade umgekehrt, seine Geometrie so weit wie möglich zu öffnen und zu flexibilisieren. Jede Form in den letzten beiden Boogies entsteht, wächst, entwickelt sich, und wie im natürlichen Raum bleibt nichts ewig bestehen; keine Entität ist vorher festgelegt, wenngleich doch in jener besonderen Situation, in jener bestimmten Beziehung zu anderen Formen, die sich gegenseitig bestimmen.

Jeder Punkt des Broadway Boogie Woogie ist einzig und unberechenbar, doch zugleich auch Teil eines Prozesses, der wie ein universaler Rhythmus alle Dinge miteinander verbindet. Ein fließender Raum, der mehr dem Werden als dem Sein eine konkrete Form gibt, mehr den Beziehungen als den einzelnen Dingen an sich; eine alles andere als starre, kalte oder nur rationale Geometrie; ein Raum, der mir statt dessen dem Leben sehr ähnlich sieht. Die neoplastische Geometrie hat wenig gemein mit den eher aseptischen Geometrismen einer gewissen konkreten Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stets hat der holländische Maler versucht, die tendenziell schematischen und reduktiven Formen des menschlichen Geistes der größeren Vielfalt und Unbeständigkeit der Existenz anzupassen, um Denken und Natur auszugleichen.

Der neoplastische Raum entstammt einem Blick, der den nicht-rationalen Aspekten des Lebens gerecht wird und der deswegen in der Lage ist, eine Geometrie zu erzeugen, die wir als organisch definieren können, die sich aber gleichwohl in den klaren und präzisen Formen des rationalen Denkens ausdrückt. Weder der eine noch der andere Aspekt dürfen den gegensätzlichen Aspekt missbrauchen. Dies ist ein typisches Vorgehen des holländischen Künstlers: ein bestimmtes Niveau der Synthese und Kontrolle erreichen, um sich dann dem Veränderlichen zu öffnen und dabei immer zu versuchen, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den beiden Aspekten zu halten.

Der Victory Boogie Woogie demonstriert, dass dieselben Geraden, die mehr als zwanzig Jahre zu den Fundamenten des neoplastischen Raumes gehörten, nicht mehr nötig sind. Eine flexiblere Geometrie als diese könnte man sich nicht vorstellen; frei, sich ständig neu zu formulieren. Eben diesen Aspekt hat missverstanden, wer vom Verrat an den neoplastischen Regeln spricht, den der Maler in seiner letzten Periode begangen haben soll; in der Beschreibung des Broadway Boogie Woogie ist auch schon einmal von einer verrückter Geometrie gesprochen worden. Diese Leute haben die wahre Natur des visuellen Denkens Piet Mondrians nicht verstanden; von den einen wird er für seine angeblichen Schematismen, von den anderen für das Aufgeben der Schemata und Regeln kritisiert. Die wirklich freien Geister finden sich oft zwischen zwei Herden.

Mondrian wählte in voller Freiheit Schemata und Regeln aus, die er nur soweit, wie er es für nötig erachtete, befolgte. Dies ist wahre Freiheit. Wie auch im Leben ist Freiheit in der Kunst nicht die Abwesenheit von Regeln, wie manche meinen. Freiheit bedeutet, Regeln auswählen zu können, die gleichwohl notwendig sind.

 

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Auch die Unterscheidung von Farbe und Nicht-Farbe, die Mondrian in den ersten zwanzig Jahren behauptete, besteht 1943, als alles Farbe geworden ist, nicht mehr.

In den europäischen neoplastischen Kompositionen fungierten die schwarzen Linien als Zeichnung und die Felder der Farbe spielten die Rolle des Bildes. Die Zeichnung (Linie) kontrollierte das Bild (Fläche) von außen, ohne an ihm teilzunehmen und das Bild betonte und variierte die vorbestimmten Proportionen der Zeichnung. Zeichnung und Bild, Intellekt und Gefühl führten einen Dialog, jedoch aus der Distanz. In den in New York realisierten Bildern durchdringen sich beide. Die Zeichnung entsteht gemalt und das Bild ist bereits gezeichnet. Denken und Gefühl werden eins.

Wie ich schon gesagt habe, waren die farbigen Papierstreifen, die Mondrian in den Vereinigten Staaten gefunden hatte, beim Übergang von den schwarzen zu den farbigen Geraden sicher behilflich, auch wenn die Streifen diese Wende, die sich seit Jahren angebahnt hatte, nicht hervorgerufen haben. Gleichwohl setzt, wie so oft, die Verfügbarkeit über ein neues technisches Mittel kreative Prozesse frei (Le Corbusier: "Die Technik erweitert die Grenzen der Poesie") und macht Lösungen möglich, die bis dato nicht ausprobiert worden waren. Ich stelle mir die Freiheit vor, mit der der Maler die farbigen Geraden auf der weißen Fläche der Leinwand „entwarf“, sie nach Gusto hin und her schob und dabei die ganze Komposition jeweils ausprobierte, ohne sich auf eine endgültige Lösung festzulegen. Einmal entschieden, dass alles funktionierte, machten die Streifen den Ölfarben Platz, wobei sich auch bei diesem Übergang noch vieles ändern konnte.

Dasselbe machte Henri Matisse mit seinem papier decoupée: Er studierte die Komposition, indem er Stücke vorher eingefärbten Papiers mit Reißnägeln provisorisch anheftete, nur mit dem Unterschied, dass der Franzose dieselben Papierstücke, mit denen er die Komposition ausprobiert hatte, dann auch direkt auf die Leinwand aufklebte. Handgemachtes Montgolfier-Papier übrigens, kostbares Papier, das sich heute nicht mehr findet.

 

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Warum bestimmte Form- und Farbverhältnisse in uns ein Harmoniegefühl hervorrufen und die Harmonie noch überzeugender wirkt, wenn sie kontrastiert wird, wissen wir nicht. Ohne zu wissen wie und warum, unterscheiden wir im Nu einen überzeugenden Rhythmus von einem überfrachteten oder umgekehrt mangelhaften. Eigentlich besitzen, um die Wahrheit zu sagen, nicht alle diese Unterscheidungsfähigkeit. Vieles hängt wohl von kulturellen Faktoren ab. Gleichwohl ist die Fähigkeit nicht notwendig an Bildung gebunden. Ich kenne Menschen, die in dieser Hinsicht ein eingeborenes Talent haben.

Die Natur erscheint uns als eine unendliche Sequenz von farbigen Flächen und Volumen. Nach Cézanne "bedeutet die Natur lesen, sie unter dem Schleier der Interpretation sehen, mittels Farbflecken, die nach einem harmonischen Gesetz aufeinanderfolgen."

Auch wenn sie es wollte, könnte die Kunst die Schönheit der Natur nicht verdoppeln. Sie kann jedoch mit eigenen Mitteln eine ebenso wahre Schönheit schaffen. Abstrahieren heißt, den bequemen Weg der Imitation aufzugeben und die Verantwortung für die Neuerschaffung eines Bildes der Welt zu übernehmen und zwar mit den realen und konkreten Ingredienzien, über die wir Maler verfügen, d.h. mit Formen und Farben, die auf einer zweidimensionalen Ebene miteinander wechselwirken; so wie ein Musiker über ein Notenliniesystem und sieben Noten verfügt, die im Äther vibrieren, oder wie ein Dichter über Worte verfügt.

Guillaume Apollinaire: "Die Geometrie ist für die visuellen Künste, was die Grammatik für die Poesie."

Cézanne: "Alles in der Natur ist nach der Kugel, dem Kegel und dem Zylinder gebildet. Diese einfachen Figuren zu malen, muss gelernt werden, danach kann man alles machen, was man will."

Wie Cézannes Kugel, Kegel und Zylinder sind das rechtwinklige Verhältnis und die drei Grundfarben, derer sich Mondrian bedient, offensichtlich Abstraktionen der natürlichen Realität. Gelb, Rot und Blau, dann Weiß und Grau, sind eine synthetisierende Reduktion der unendlichen Farbmenge der Natur. Gleichwohl dienen sie dem holländischen Maler dazu, die Komplexität der Welt in den lebhaftesten und kontrastreichsten Farben, zugleich aber auch in möglichst klarer und synthetischer Art zu evozieren. Das rechtwinklige Verhältnis bildet einen ersten festen Punkt, wenn wir wollen: ein Axiom, von dem aus der Raum in Bewegung gesetzt wird, um die wechselhaften Erscheinungsweisen auszudrücken, ohne den Blick für das Wesen zu verlieren.


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Sicher, der holländische Künstler mag rigoros erscheinen, manchmal sogar exzessiv. Nicht zu vergessen jedoch, war seine Innenwelt so reich und differenziert, dass er jedes Ding nur in Relation zu anderen sah. Alles befand sich in ständiger Verwandlung. Und in einer Welt werdender Dinge bedarf es eines festen Punktes. Mondrian: "Aber was gibt uns in allen diesen Beziehungen einen Stützpunkt? In dieser Vielfalt von Beziehungen gibt es eine unveränderliche Beziehung; plastisch drückt sie sich über die rechtwinklige Position aus, und diese gibt uns gestalterisch einen Stützpunkt." Mit Hilfe dieses „Stützpunktes“ wird es möglich, den ganzen Rest zu variieren. Die rechtwinklige Position ist nicht die Form, in der uns Dinge erscheinen, wenn auch die dynamische Struktur der veränderlichen und unendlichen Beziehungen zwischen uns und den Dingen.

Nur mit Schaudern lässt sich an jene denken, die tatsächlich geglaubt haben, Mondrian sähe die Realität rechtwinklig an.

 

Auf seiner Suche nach einer neuen Gestaltung hat der Holländer das Geistige mit der Vertikalen und das Natürliche mit der Horizontalen identifiziert und dies, um in den zwei Dimensionen des Bildes einen Raum der Beziehung zwischen kontrastiven Realitäten zu evozieren. Es ist jedoch darauf zu achten, dass dies nicht als ein Attribut von objektiver Bedeutung genommen wird, da die Vertikale genauso gut als Symbol des Natürlichen und daher die Horizontale als Symbol des Geistigen dienen könnte.

Sicher stellt sich uns der natürliche Raum als eine grenzenlos ausgedehnte Horizontale dar, während die Vertikale sich gut dazu eignet, jenen menschlichen Wunsch nach idealer Konzentration der Vielfalt der physischen Welt im eigenen Bewusstsein, nach Auffassung der Welt als eines Ganzen auszudrücken. Der vertikale Impuls verweist auf den atavistischen Hang des Menschen, sich das Geistige unsichtbar ätherisch und nicht materiell gebunden vorzustellen. All das mag die Bedeutungsgebung des Künstlers beeinflusst haben, wenn auch nicht allzu sehr, da es Mondrian immerhin auf ein Gleichgewicht zwischen Geist und Materie, Innerlichkeit und Äußerlichkeit ankommt.

Im neoplastischen Raum haben Horizontale und Vertikale keine Bedeutung an sich; sie gelten als visuelle Metaphern der Dualität im Menschen, als Symbol der natürlichen Kräfte, die in ihrer Gegensätzlichkeit die ganze Vielfalt der Welt erzeugen. Wenn wir einen Moment an unsere allgemeine Lebenserfahrung denken, wissen wir, dass wir besser durch die Irrungen und Wirrungen der Existenz kommen, wenn wir einen ‚geradlinigen’ Weg gewählt haben. Der schaffende Geist der Wissenschaft und Technik drückt sich in ‚Geraden’ aus. Das hindert die Geraden im Broadway Boogie Woogie nicht, eine noch weitreichendere Vision auszudrücken, die vom Besonderen und Genauen zum Allgemeinen und Unwägbaren geht.

Humanistischer und wissenschaftlicher Geist können sich nur vereinigen, wenn es gelingt, den unberechenbaren und unbestimmten Aspekt der Natur und menschlichen Existenz mit bestimmten expressiven Mitteln auszudrücken. Dies heißt keineswegs, alles auf die rationale Ebene zu reduzieren. Ein klares und präzises Alphabet steht nicht der Möglichkeit entgegen, unter der Bedingung einer weitreichenderen Sicht der Dinge und der Fähigkeit, dieses Alphabet in den Dienst eben dieser Sicht zu stellen, das Mysteriöse auszudrücken. Hier fallen Italo Calvinos Worte ein: "das Unendliche mit dem Endlichen ausdrücken, das Unexakte mit der größten Präzision."

Die rechtwinkligen Geraden des neoplastischen Raumes verfolgen nicht das Ziel, ein „Kreuz“ oder ein „Gitter“ (a grid, wie gewisse nordamerikanische Kunstkritiker sagen) zu schaffen. Die Geraden werden nicht als Darstellung eines Objekts, sondern als Ausdruck eines dynamischen Flusses gesehen, der in sich selbst alle möglichen Objekte aus allen möglichen Perspektiven begründet. Mondrian: "Alles drückt sich durch Beziehung aus. Die Farbe, die Dimension, die Position existieren nur durch den Gegensatz zu einer anderen Farbe, einer anderen Dimension, einer anderen Position: daher nenne ich die Beziehung das fundamentale Element (...) Wie uns jeder Weise lehrt, wird alles nur durch ein Anderes erkennbar." Jenseits des Atlantiks wird ein abstraktes Bild noch mit einer naturalistischen (figurativen) Brille angesehen. Einigermaßen oberflächlich wird die abstrakte Kunst als eine der vielen möglichen Stile oder Tendenzen der modernen Kunst betrachtet. In New York muss die eigentliche und tiefe Bedeutung des Abstraktionsprozesses, der die Bildsprache revolutioniert hat, noch verstanden werden.

Auch auf dem alten Kontinent gibt es noch viele, die in den neoplastischen Geraden nur rigide gitterhafte Strukturen und sterile geometrische Schemata sehen - Schemata, die in Wirklichkeit nur in ihren eigenen Köpfen existieren: nämlich dann, wenn sie ängstlich darauf bedacht sind, ihren Gefühlen nicht zu weit nachzugeben; wenn sie, im Bestreben, die Unwägbarkeiten der Existenz unter Kontrolle zu bekommen, jeden Aspekt ihres Lebens übermäßig planen. Manche führen ein solch züchtiges Innenleben, dass sie, wenn sie sich der Kunst zuwenden, emotionale Ausdrucksformen vorziehen; für diese Leute wäre eine gerade Linie über diejenigen hinaus, die sie eh schon in ihrem Kopf haben, unerträglich. Für sie wird Kunst zu einer Flucht vor sich selbst und der Realität. Dagegen glaube ich, dass die Kunst sich mit der Realität in all ihren Aspekten auseinandersetzen muss.

Um ein Gleichgewicht zwischen den widersprüchlichen Aspekten des Lebens – zwischen Instinkt und Vernunft, Natur und Denken - zu finden, fordert der Neoplastizismus dazu auf, den Menschen in seiner ganzen: abgründigen und rationalen Totalität zu betrachten. Ich fürchte, dass es noch einiger Zeit und viel didaktischer Anstrengung bedarf, um begreifbar zu machen, wie viel mentale Offenheit und emotionale Leidenschaft zum Genuss einer neoplastischen Komposition gehört.

Die rechtwinkligen Geraden und Primärfarben sind in Bezug auf die Natur ein Akt der Autonomie und Freiheit des Denkens, kein Gewaltakt. Denn wenn sie auch zunächst gegenüber dem natürlichen Aspekt willkürlich und begrenzend erscheinen mag, so kümmert sich doch die neoplastische Sprache dann um eine möglichst erschöpfende Reformulierung der realen (nicht nur der erscheinenden) Charakteristika des natürlichen Raumes oder besser: der Charakteristika des Verhältnisses zwischen Denken und Natur, wobei sie schließlich die beiden Aspekte wie wesentliche Bestandteile ein und desselben unauflöslichen Prozesses behandeln.

 

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Wie gesagt, erlaubt die abstrakte Sprache dem holländischen Maler, eine größtmögliche Vielfalt darzustellen, ohne sich in der Äußerlichkeit tausenderlei Dinge zu verlieren, die das Bewusstein zersplittern und an einer Gesamtschau hindern. "Die Kunst muss das Universale ausdrücken", sagt Mondrian. Bedrängt, wie wir sind, von überstürzten und frenetischen Rhythmen, haben wir die Fähigkeit verloren, weiträumigere Fragen zu stellen. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir uns schon schämen, über universale Fragen zu sprechen.

Malen heißt vor allem, die Welt zu beobachten, ihre Formen und Farben voll auf sich wirken zu lassen und die unendliche Vielfalt in die synthetischsten Formen des Denkens zu überführen. Das war immer so – ob in der Malerei der antiken Ägypter, der Byzantiner, des Mittelalters oder der Renaissance. Jedes Kunstwerk ist die Herstellung eines endlichen Feldes von Beziehungen, die die weit komplexeren und flüchtigen Beziehungen, die sich im Raum des realen Lebens wahrnehmen lassen, zu evozieren suchen.

Wenn wir eine Natur- oder Stadtlandschaft betrachten, setzt sich der Raum jenseits unseres Gesichtsfeldes in seiner virtuellen Unendlichkeit an Farben und Formen fort. Das Bewusstsein des Betrachters kann diese unendliche Vielfalt nicht in sich aufnehmen, ohne es zugleich stückweise zu isolieren und auf synthetischere Ganzheiten zu reduzieren. Schon mit der ersten Wahrnehmung und dann mit der Ausarbeitung von wissenschaftlichen Theorien, philosophischen Systemen oder künstlerischen Ausdrucksformen tendiert das menschliche Denken dahin, das, was im natürlichen physischen Raum und im Leben eine beträchtlich reichere und artikuliertere Vielfalt an miteinander verbundenen und simultanen Phänomenen ist, auf endliche Ganzheiten und einheitliche Strukturen zu reduzieren.

Ohne uns dessen bewusst zu sein, haben wir täglich mit Beziehungen zwischen dem Einem und dem Vielfältigen zu tun: jedes Mal, zum Beispiel, wenn wir etwas, das uns zu zergliedert und komplex erscheint, zusammenfassen. Auch wenn wir uns anstrengen, alle Facetten der Realität zu sehen oder wenn wir, einem Gefühlsimpuls folgend, alles auf wenige Ursachen zurückführen oder alles, wie man sagt, über einen Kamm zu scheren, stellen wir eine Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen her. Auch wenn wir wissen, dass die Realität komplexer ist, neigen wir oft zu pauschalen oder reduktiven Urteilen. Die vor uns liegende Realität ist stets komplexer als unsere Beschreibungen, doch können wir uns nicht immer auf sie konzentrieren und jeden einzelnen Aspekt vertiefen, auch weil, um genau zu sein, schon jeder einzelne Aspekt für sich eine unendliche Realität ist. Das galt schon immer und gilt bei dem heutigen Komplexitätsgrad unserer Gesellschaft umso mehr. Daher denke ich, dass die Frage des Vielfältigen und des Einen eine der aktuellsten Fragen unserer Zeit ist.

Übrigens handelt es sich nicht nur um eine intellektuelle Tatsache: Immer dann, wenn nicht nur der Verstand, sondern auch das Gefühl spricht, erleben wir einen Konzentrationsschub, der die ganze Artikulation und Bruchstückhaftigkeit einer intellektuellen Sicht in die quasi absolute Synthese einer empfundenen Sicht verwandelt. Zum Beispiel, wenn wir uns verlieben. Die ganze Fragmentiertheit des Alltags scheint dann in einer einzigen Energie zusammenzukommen, die uns im Einklang mit der Welt fühlen lässt. Auch hier geht es um Vielfalt, die eins wird.

Jede unsere Beschreibung der Welt ist eine endliche geistige Verarbeitung einer unendlichen physischen Realität, ein Prozess, der dazu dient, die Beziehungen zwischen verschiedenen Dingen zu beobachten, zu studieren und zu festigen. Unter physischer Realität lässt sich entweder der äußerliche Makrokosmos oder der Mikrokosmos, aus dem sich unsere Individualität konstituiert, verstehen. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass derartige Verarbeitungen Abstraktionen der realen Phänomene sind, die stets noch artikulierter und komplexer sind als unsere Vorstellungen.

Aus Gewohnheit identifizieren wir unsere geistigen Symbole mit den physischen Phänomenen und aus Bequemlichkeit definieren wird unsere Vorstellungen als die Realität. Jede Zeit und jede Zivilisation oder Kultur hat ihre Vorstellungen von der Realität gehabt. Giuseppe Pellizza da Volpedo: "Was ich im Bild vorstellen muss, ist nicht die wirkliche, sondern die ideale Wahrheit. Der Konflikt zwischen diesen beiden Wahrheiten im schaffenden Künstler macht, dass das Werk unvollkommen bleibt. Künstler, die auf der Suche nach der Wahrheit dieser zu eng auf den Leib rücken, verlieren das Ziel aus den Augen, anstatt es zu erreichen. Erst durch das Opfer der realen Wahrheit stößt man zur idealen Wahrheit."

 

 

Seit Immanuel Kant ist uns bewusst, dass wir unsere Vorstellungen von Phänomenen kennen können, nicht aber die Phänomene an sich. Dennoch identifizieren wir aus Gewohnheit unsere mentalen Symbole mit physikalischen Phänomenen und nehmen unsere Vorstellungen der Einfachheit halber als Realität. Jede Epoche und jede Zivilisation oder Kultur hat ihre eigenen Vorstellungen von der Realität der Dinge.

Wie alles menschliche Denken verarbeiten auch die Künste Symbole, die die Realität evozieren, aber – wie nicht eigentlich betont werden muss - nicht die Realität sind. Das wollte René Magritte 1926 sagen, als er eine Pfeife in realistischer Manier malte und sie mit C’est ci nez pas une pipe (Dies ist keine Pfeife) betitelte. In einem ähnlichen Paradox will er uns sagen, dass das malerische Bild eines Objekts, auch wenn möglichst getreu wiedergegeben, nicht das Objekt selbst ist. Indem es uns nur einen einzigen Aspekt einer Sache präsentiert, abstrahiert das Bild von seiner Realität, die weit komplexer und vielgestaltiger ist.

While we do our utmost to give precise shape to our ideas, things change slowly and we change with them.

Kein Bild, keine geistige Vorstellung hat oder wird je die Realität der Welt vorstellen können, ohne deren vielgestaltige Erscheinung synthetisch zu reduzieren, d.h. nur einige ihrer vielen möglichen Aspekte zu abstrahieren. Auch eine realistisch (figurativ) gemalte Landschaft, eine menschliche Figur oder eine Blumenvase sind in Wahrheit eine Abstraktion. Eine Abstraktion, an die wir seit langer Zeit gewöhnt sind und die daher in uns nicht jene Verwirrung auslöst, die uns angesichts eines noch abstrakten Bildes befällt. Viele meinen, ein naturalistisches (figuratives ) Bild ohne weiteres verstehen, aber kein abstraktes Bild dechiffrieren zu können. Vielleicht wollen sie damit in Wirklichkeit nur sagen, dass sie im ersten vertraute Züge wiedererkennen können, während sie im zweiten noch nie gesehenen Dingen gegenüberstehen. Bedeutet vielleicht das Wiedererkennen eines bereits Gesehenen, die Malkunst zu verstehen?

Wie viele von denen, die ein impressionistisches Bild – das ja heutzutage jeder ‚versteht’ – betrachten, können deren kompositorische und farbliche Richtigkeit erkennen und einschätzen? Wie viele können dem fröhlichen und gemessenen Rhythmus der Linien folgen, die sich miteinander verflechten, voneinander entfernen und wiederfinden und dabei den Raum in stets neuer Form zusammenziehen und wieder zum Leben hin öffnen?

Zur Schaffung eines Kunstwerkes, das seinen Namen verdient, braucht ein Maler viel Talent bei der Wahl der Farben und beim Komponieren, egal ob er sich an einem figurativen oder abstrakten Bild versucht. Entscheidend ist allein die Qualität der Ausdrucksmittel; dies gilt auch für das Malen eines Gesichtes. Was die Kunstkritiker betrifft, hat Cézanne einmal folgende Bemerkung gemacht: "Ich würde sie ja gerne mal hier sehen, vor deiner dreckigen Visage und mir mit meinen Tuben und meinen Pinseln zwischen den Pfoten, alle die da, die über uns schreiben...Es sind ihrer Abertausende...Ob sie wohl wissen, dass ein Grün und ein Rot zusammen einen Mund traurig oder eine Wange lächeln machen kann..."

Der geheime wahre Inhalt der Malerei ist ihre eigene Form.

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Siebzig Jahre nach Mondrians Tod befinden wir uns noch auf dem halben Wege zwischen einem alten, aber noch sehr realen System wie dem der naturalistischen (figurativen) Malerei und einem neuen und funktionalerem, das von einer wachsenden Anzahl von Personen angewendet wird, ohne dass diese schon zu einer sicheren Sprache gefunden, einen Kanon errichtet hätten, der als Maßstab für das fungieren könnte, was die Malkunst heute ausmacht. Vielleicht ist die Zeit reif für den Entwurf eines Kodexes der neuen Malerei. Worin könnte die Grammatik des neuen Raumes, seine Syntax bestehen? Dabei beziehe ich mich natürlich nicht nur auf die traditionell gemeinte Malerei, sondern auch auf alle Ausdrucksmöglichkeiten, die die neuen Techniken der visuellen Repräsentation bieten. Dies wird Gegenstand einer nächsten Abhandlung sein.

Auch wenn ich glaube, dass der neue Raum zu einem großen Teil von der Arbeit Piet Mondrians abhängt, wird sich ein Kodex der neuen Malerei nicht nur auf dessen Neoplastizismus stützen. Ich denke auch an den letzten H. Matisse und seinen meisterhaften Farbgebrauch; an die vibrierende Materie M. Rothkos; an die ‚Wiederholungen’ oder Variationen A. Warhols; an die spontane und ununterbrochene Raumkontinuität des J. Pollock. Man muss also nicht wie Mondrian malen, um wahre abstrakte Kunst zu machen.

Nehmen wir nur als ein Beispiel das Werk eines unbekannten Zen-Malers aus dem 18. Jahrhundert – auf dem ersten Blick die Antithese zu einem neoplastischen Werk.

Das Bild evoziert einen Kreis; einen Kreis, der sich im Schließen wieder öffnet. Ein zirkulärer Prozess, bei dem das Ende mit einem neuen Anfang zusammenfällt - wie im Broadway Boogie Woogie. Anders als die konstruierte Geometrie des Holländers, wird die des Japaners von einer schnellen Hand ausgeführt. Doch wie viel Übung war nötig gewesen, um einen solchen wohlgeformten Kreis in einem Zug zu malen! Ein offener und ungenauer Kreis, der der Natur ähnelt und der zugleich eine Sehnsucht an die Perfektion verrät, die dem menschlichen Denken eigen ist. Ein Kreis, der unsere Vorstellung von einem allgemeinen Lebenszyklus ausdrückt, jedoch in so spontaner Art wie nur das Leben selbst.

Der Kreis scheint die ganze Vorläufigkeit eines Augenblicks zu enthalten und strebt doch eine quasi absolute Erfüllung an – ein werdender Kreis, der Alltag und Ewigkeit ausbalanciert.

Wie der Broadway Boogie Woogie kann auch dieses Bild die Einheit aller Dinge evozieren, Einheit, die sich nur über eine dynamische Sichtweise herstellen lässt. In dieser Geste – schnell wie ein Blitz - scheint das Geheimnis des Lebens beschlossen zu sein. Stellt sich auch in beiden Bildern ein zirkulärer Prozess her, der Naturzyklen evoziert, so handelt es sich in einem Falle (im Kreis des östlichen Künstlers) um eine unmittelbare Intuition, die die Einheit erfasst, ohne sich allzu sehr um den Aspekt der Vielfältigkeit zu kümmern. Im Broadway Boogie Woogie handelt es sich jedoch um eine mittelbare Sicht, die erst eine Varietät besonderer, untereinander verschiedener Formen durchläuft, bevor sie deren innere Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Prozess aufzeigt. Was beim östlichen Maler die Gestalt einer spontanen Geste annimmt, gliedert sich bei Mondrian in eine Komplexität entwickelter, entgegengesetzter und schließlich verbundener Formen.

In sehr unterschiedlicher Art und Weise feiern beide Bilder die dynamische und unberechenbare Spontaneität des Lebens. Man könnte sagen, dass der westliche Maler dazu tendiert, die spontane Geste in eine Reihe von bedachten Augenblicken zu zerlegen. Beides sind heilige Visionen des Leben, nur dass sich die erste eher mystisch und absolut ausdrückt, währen die zweite (Broadway Boogie Woogie) dazu neigt, sich zu artikulieren, zu erklären und zu relativieren – ganz nach unserer relativen Erfahrung der Realität. Wie ausgeführt, drückt sich die Idee eines zirkulären Prozesses im Broadway Boogie Woogie in Form gerader Linien aus, was so viel bedeutet wie dass das Absolute relativ, das Ewige alltäglich wird.

Ich möchte klarstellen, dass die Spontaneität, von der ich rede, dem fortgeschrittensten Stadium einer langen und geduldigen Übung in Disziplin entspricht. Erst am Endpunkt dieser Disziplin kann man sich gehen lassen, ohne das Ziel zu verfehlen. Matisse: "Der Anfänger im Malen meint, mit Gefühl zu malen. Auch der Maler auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung denkt, mit Gefühl zu malen. Doch nur Letzterer hat Recht, denn die Übung und die Disziplin, die er sich auferlegt, erlaubt ihm, seinen Impulsen zu folgen."


Ein anderes Beispiel wahrer abstrakter Kunst (auch wenn der Titel irreführend sein könnte) ist ein Bild von Henri Matisse von 1952. Es handelt sich um ein papier decoupée, wie es der französische Künstler nannte – um Papier, das vom Künstler (genauer sagt, seinem Assistenten) gefärbt und dann nach den Erfordernissen der Komposition zugeschnitten wurde, um dann auf eine Leinwand geklebt zu werden.

Jede Fläche hat eine bestimmte Farbe und nimmt je nach Konfiguration und Farbe der angrenzenden Flächen eine bestimmte Form an. Insgesamt evozieren die Flächen eine Kreisbewegung, die auch an die Spirale eines Schneckenhauses erinnert, daher auch der Titel. Wie ich schon in Bezug auf den Broadway Boogie Woogie sagte, hätte auch dieses Werk einen neutraleren Namen verdient; unerfahrene Betrachter könnten sonst meinen, in dieser ausgezeichneten Komposition nur eine Schnecke zu sehen. Auch hier handelt es sich um ein Bild, das eine dynamische, aus verschiedensten Entitäten gebildete Einheit zu evozieren versucht. Jede Fläche unterscheidet sich von der anderen entweder nach Form oder Farbe, doch tragen alle zu einem einheitlichen Prozess bei.

Wie im Broadway Boogie Woogie und dem Bild des japanischen Malers sehen wir hier eine zirkuläre Struktur, die ein Gefühl der Vielfältigkeit erzeugt und zugleich Synthese und Einheit evoziert.

Henri Matisse, L'Escargot, 1952

Die extreme Synthese des Zen-Bildes artikuliert sich hier in einer Reihe von Teilen: der unmittelbare und gut sichtbare Kreis des japanischen Malers wird hier zu einer abgestufteren und artikulierteren Kreisbewegung. Das Bild von Matisse steht sozusagen in der Mitte zwischen dem quasi absoluten Kreis des japanischen Malers und dem zirkulären, geradlinig vermittelten Prozess des Broadway Boogie Woogie. Im Vergleich zum Zen-Bild zeigt das Werk von Matisse einen höheren Grad an Vielfalt, jedoch nicht so hoch wie der des Broadway Boogie Woogie. Ich versuche nicht einmal, die Schönheit der Farben und die heilsame Energie, die aus diesem Meisterwerk des französischen Malers strömt, zu beschreiben. Für einen Besuch der Tate Gallery und die Betrachtung des Originals lohnt sich allemal eine Reise nach London.

Broadway Boogie Woogie, ein Bild eines anonymen japanischen Malers, die Schnecke von Henri Matisse – drei Bilder, die auf je verschiedene Weise vom Selben sprechen. Abstrahieren heißt nicht, einem bestimmten Stil zu frönen; vielmehr heißt es, das Wesen der Dinge zu treffen. Jedes nach seiner Art. Durch einen klugen Gebrauch von Formen und Farben kann abstrakte Kunst die innere Natur hinter den veränderlichen Erscheinungsweisen des Lebens hervorrufen und sie so betrachten, wie man die Unermesslichkeit des Meeres betrachten kann - mit all seinen Wellen und jeder neuen Welle, die immer anders erscheint und doch immer nur aus Wasser gemacht ist. Es gibt eine Malerei, die auf die besondere Gestalt einer einzigen Welle schaut, und eine Malerei, die sich auf das Werden des Wassers konzentriert und daher alle möglichen Wellen sieht. Dies setzt eine ungewöhnliche Sensibilität voraus, die über die vielfältigen Erscheinungen hinaus zu sehen versteht. Doch nicht allein das: Es bedarf zudem der Fähigkeit, den eigenen inneren Sichtweisen konkrete Gestalt zu geben und es bedarf auch einer guten Portion Talent, damit diese Bilder das Auge erfreuen und sich in einen Inhalt umsetzen können, der das Denken und den Geist bereichert.

Dinge, die sich im gegenwärtigen Kunstspektrum so selten vorfinden. Die angeblich abstrakte Kunst, die uns heute angeboten wird, hat oft mehr Ähnlichkeit mit einem Tapetenmuster. Auch unter jenen ehrlichen Willens finden sich nur sehr wenige Werke abstrakter Kunst, die aus einem fruchtbaren Prozess der Beobachtung und Destillation der Realität hervorgegangen ist. Meistens legt die gegenwärtige abstrakte Kunst Synthesen vor, die sich als leer erweisen.
Aus einem Gespräch von Matisse mit Verdet über ein Bild von Cézanne: "Um diese Einfachheit dieser Badenden am Ende des Gartens zu erreichen, braucht man viel Analyse, viel Einfallsreichtum und viel Liebe. Man muss ihrer würdig sein, sie verdienen. Ich habe schon einmal gesagt: wenn die Synthese unmittelbar ist, ist sie schematisch, ohne Dichte, und sie verliert an Ausdruck."

Es ist nicht nötig, wie Mondrian zu malen. Es ist möglich, über ein und dieselbe Sache ganze verschieden zu sprechen; doch zur Schaffung eines abstrakten Kunstwerkes genügt es nicht, eine Leinwand mit Formen und Farben zu füllen, so wenig wie es für ein literarisches oder musikalisches Werk genügt, Worte oder Noten aneinander zu reihen. Die Schönheit und Richtigkeit bestimmter Kombinationen von Farben und Formen sind Dinge, die nicht gelehrt oder gelernt und noch weniger in Worten erklärt werden können. Sie sind entweder da oder nicht da. Wir können sie entweder erkennen oder nicht. Wie Noten einer musikalischen Komposition hat die Farbe in sich eine Ausdrucksstärke, mit der man umgehen können muss. So wie die gleichen Worte in der Wortsprache dazu benützt werden können, dummes Zeug zu reden oder sinnvolle Sätze zu sagen, so auch in der Sprache der Formen und Farben. Das Vokabular ist dasselbe, doch die Differenz zwischen einem sinnhaften und einem sinnlosen Bild hängt am Gebrauch, den man von diesem Vokabular macht. Ohne Regeln und einen festen Kanon für die neue Malerei, befinden wir uns heute in einem primitiven Stadium, in dem jeder meint, ein Kunstwerk schaffen zu können. In Wirklichkeit sind wir von einer Masse Analphabeten umringt, die uns glauben machen will, sie könne Gedichte schreiben.

Im Broadway Boogie Woogie werden die Variationen der Form zu Inhalten; nicht jede Formvariation jedoch kann in der Malkunst Inhalte hervorrufen. Leider gibt es nicht viele Leute, die Kompositionen, in denen die Form zum Inhalt wird, von solchen unterscheiden können, in denen die Materie toter Buchstabe bleibt - und diese wenigen sind in einer Gesellschaft des Massenkonsums nicht länger maßgeblich. Daher die Verwirrung im gegenwärtigen Kunstpanorama.
Wie immer, wenn Verwirrung herrscht, haben die Hochstapler leichtes Spiel; so besitzt ein großer Teil dessen, was uns heute als Kunst vorgesetzt wird, nicht die Qualitäten, die wir uns von einem wahren Kunstwerk erwartet hätten.

 

SCHLUSSFOLGERUNGEN


Die Methode, mit der ich das Werk Piet Mondrians erläutert habe, stützt sich auf einen Schlüsselbegriff seines Werkes selbst, d.h. auf die Beziehung zwischen dem Vielfältigen und dem Einen. In der Tat legt diese Abhandlung eine Analyse vor, die von einem ersten synthetisierenden Blick ausgeht, dann zu einer eingehenden Untersuchung fortschreitet, um schließlich zu einer Gesamtansicht zurückzukehren. Weitere Studien sind nötig, und ich bin sicher, dass sie weitere Bestätigungen finden werden. Viele Kompositionen müssen noch aufmerksam untersucht, erläutert und genossen werden. Nach der Lektüre dieser Erläuterungen gehe man in die Museen und lasse die Originale und die ganze Anmut der gemalten Materie auf das Auge einwirken – als wesentliche, wortlose Aussagen über das Leben.
Diese Abhandlung ist auch jenen zugedacht, die tatsächlich geglaubt haben, die Abstraktion auf eine kalte Geometrie, eine Geometrie um ihrer selbst willen reduzieren zu können – wie es leider viele getan haben, die stark im Verstand und schwach im Gefühl sind. Eifrige Angestellte der Abstraktion, wie Fausto Melotti sie nannte.

"Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?", hat Paul Gauguin auf ein Gemälde geschrieben. Eben diese Frage hat Mondrian gemalt – mit farbigen Geraden, die zu Flächen und dann wieder zu Geraden werden. Der Inhalt des Mondrian’schen Denkens fällt mit seiner Form zusammen. Dieser Aspekt, auf den ich in einer nächsten Abhandlung ausführlicher zurückkommen werde, macht m.E. einen der fundamentalen Unterschiede zwischen der nord-amerikanischen und der europäischen Kultur aus. Ich glaube, dass der Lebensweg Mondrians, der in Holland geboren wurde und in New York starb (einer Stadt, die sich zuerst Neu Amsterdam nannte), kein reiner Zufall ist. Ich denke, sein Same wird in der Neuen Welt Früchte tragen. Broadway und Victory Boogie Woogie schlagen eine Brücke zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Die Zeit wird es erweisen.

Die neoplastische Geometrie demonstriert, dass man von allgemeinen Fragen reden kann, ohne sich noch auf absolute und ewige Wahrheiten festzulegen. Universal ist nicht mehr gleichbedeutend mit dogmatisch, wie noch mancher, der keine Phantasie hat, meinen mag.
Die neoplastische Malerei ist kein Gitter von schwarzen Geraden mit dazwischen einigen Farbflächen; es ist nicht einmal unbedingt ein Bild mit Geraden, wie Victory Boogie Woogie beweist. Der Neoplastizismus ist eine Art, die Realität aus ihren Widersprüchen heraus zu denken. Mondrian hat die Ruhe gesucht und sie in der Bewegung gefunden; er strebte nach der äußeren Schönheit, ohne die innere Balance und Harmonie aus dem Blick zu verlieren. Ihm diente das Werk einer ganzen Existenz dazu, seinem Lebensgefühl, das er in allen Aspekten des Alltags und der Ewigkeit, im Besonderen und im Allgemeinen empfand, konkrete Gestalt zu geben. Ich habe an alle die Male gedacht, in denen mir klar wurde, dass die Realität der Welt doch viel komplexer und gegliederter ist als die Begriffe, die wir uns von ihr machen. Unsere kategorischen Bilder des Realen – entweder oder, gut oder schlecht, weiß oder schwarz – sollten sich vielmehr der Betrachtung der realen Zwischennuancen öffnen. Ich denke an Lozenge with Four Yellow Lines, das zu Victory Boogie Woogie wird.

Die neoplastische Sicht fordert dazu auf, sich der Vielfalt der Welt, außerhalb und innerhalb von uns, zu öffnen; sie in ihren ganzen Varietät zu betrachten, ohne sich dabei jedoch zu verlieren. Das ist im Alltagsleben sicherlich schwierig! Wieviel Angst im Menschen ruft doch diese Öffnung, diese Begegnung mit der Verschiedenheit hervor! Jede Abschließung, jede Form der Intoleranz und des Rassismus entsteht aus Angst.

In einer Welt wie der gegenwärtigen, in der nur für die ersten flüchtigen Eindrücke Zeit zu sein scheint, ist es ermutigend zu entdecken, dass gewisse Bilder noch immer die ganze Weisheit, deren die Menschen, wenn sie nur wollen, fähig sind, ausdrücken können.

Ich bin sicher, dass die letzten beiden Bilder Mondrians zu geistigen Symbolen der neuen Welt avancieren werden, der wir bei allen Schwierigkeiten und Widersprüchen entgegen gehen.

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